Aktuelle Neurologie 2004; 31(6): 302-306
DOI: 10.1055/s-2003-817879
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Wie aus einem Schlafmittel ein Antiepileptikum wurde - Die Entdeckung der antiepileptischen Wirkung von Phenobarbital durch Alfred Hauptmann

From a Hypnotic to an Antiepileptic Drug - The Discovery of the Antiepileptic Effect of Phenobarbital by Alfred HauptmannE.  Kumbier1 , K.  Haack1
  • 1Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universität Rostock (Direktorin: Prof. Dr. S. Herpertz)
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Publication Date:
28 July 2004 (online)

Zusammenfassung

Alfred Hauptmann beschrieb 1912 in seinem Artikel „Luminal bei Epilepsie” erstmalig die antiepileptische Wirkung von Phenobarbital. Sein Beitrag zur Behandlung der Epilepsie gilt heute als seine größte wissenschaftliche Leistung. Aus diesem Grund wird seit 1980 der Alfred-Hauptmann-Preis für Epilepsieforschung verliehen. Trotz vieler moderner Antiepileptika hat das Phenobarbital seit fast 100 Jahren seinen festen Platz in der Epilepsiebehandlung behauptet. Deshalb wird die Entwicklung des Phenobarbitals vom Schlafmittel zum Antiepileptikum dargestellt. Dabei findet das Leben und Werk von Hauptmann besondere Berücksichtigung. Es soll damit auch an das tragische Schicksal des Menschen Alfred Hauptmann, der den schweren Weg in die Emigration gehen musste, erinnert werden.

Abstract

Alfred Hauptmann was the first who described the antiepileptic effect of Phenobarbital in his article „Luminal bei Epilepsie” in 1912. This contribution to the treatment of epilepsy is nowadays considered to be his most important scientific achievement. For this reason the Alfred-Hauptmann-Prize for epilepsy research is awarded for scientific work in the field of experimental and clinical epileptology since 1980. Despite many modern antiepileptics Phenobarbital has held its place since nearly 100 years in the epileptic therapy. Therefore, the development of Phenobarbital from a sedative and hypnotic drug to an antiepileptic drug is described. Furthermore, the article reminds of the pathway through life of Hauptmann and his work. However, one should not forget the personal tragedy of Alfred Hauptmann, who had to emigrate like many other German psychiatrists and neurologists.

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1 Die Gründe für die Synthese einer Vielzahl verschiedener Schlafmittel schon vor dem Ersten Weltkrieg lagen sicherlich darin, dass die Präparate nicht nur hinsichtlich ihrer Wirkungsstärke und Verträglichkeit, sondern auch bezüglich der Wirkungsdauer untersucht wurden. Entsprechend den verschiedenen Formen von Schlafstörungen sollten Schlafmittel mit unterschiedlicher Wirkungsdauer als Ein- bzw. Durchschlafmittel zur Verfügung gestellt werden. Zur Geschichte der Erforschung von Schlafmitteln vgl. auch [1] [2].

2 1912 gelang mit Luminal eine Weiterentwicklung. Statt mit zwei Ethylgruppen ist die Barbitursäure im Luminal mit einer Phenyl- und einer Ethylgruppe substituiert. Synthetisiert wurde Luminal erstmalig von Heinrich Hörlein, Walter Kropp und Ludwig Taub im chemisch-wissenschaftlichen Laboratorium der Bayer AG in Wuppertal-Elberfeld.

3 Binswanger veröffentlichte 1899 die Monografie „Die Epilepsie” in der bekannten, von Hermann Nothnagel herausgegebenen Reihe „Specielle Pathologie und Therapie”. Diese Arbeit wurde zu einem Standardwerk auf dem Gebiet der Epilepsie [5].

4 Luminal gelangte Anfang 1912 zunächst unter dem Namen Hyp zu Versuchszwecken in einzelne Krankenanstalten, wo die Wirkung als Hypnotikum erprobt werden sollte. In diesem Zusammenhang beobachtete neben Hauptmann auch Friedländer in zwei schweren Fällen von genuiner Epilepsie die antiepileptische Wirksamkeit [7] [8]. Im Verlauf des Jahres 1912 wurde das neue Arzneimittel unter dem Namen „Luminal” bzw. das Natriumsalz unter dem Namen „Luminal-Natrium” in die Praxis eingeführt und konnte per os und subkutan verabreicht werden.

5 Noch vor Erscheinen des ersten Artikels 1912 wurde in einem Bericht der „Abteilungsvorstände der pharmazeutisch-technischen und fotografischen Abteilungen” vom 10. Juli desselben Jahres (Farbenfabriken vormals Friedrich Bayer & Co. Leverkusen) auf die guten Resultate nach Anwendung von Luminal bei Epilepsie aufgrund von Berichten aus der Nervenklinik in Freiburg hingewiesen. Es bleibt allerdings offen, ob bereits die antiepileptische Wirkung oder aber die sedative Wirkung bei unruhigen Epileptikern gemeint war.

6 Eine ausführliche Darstellung zu Leben und Werk Alfred Hauptmanns findet sich in [16].

Dr. Ekkehardt Kumbier

Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie · Zentrum für Nervenheilkunde der Universität Rostock

Gehlsheimer Straße 20

18147 Rostock

Email: ekkehardt.kumbier@medizin.uni-rostock.de