Balint Journal 2002; 3(4): 105-108
DOI: 10.1055/s-2002-36047
Original

© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Balint-Arbeit - Theorie und Praxis

A. Trenkel
Further Information

Publication History

Publication Date:
10 December 2002 (online)

Das Thema von „Theorie und Praxis“ in der Balint-Gruppen-Arbeit beschäftigt mich seit Jahren, wenn auch nicht im geläufigen Sinn, wonach sich Praxis auf vorgegebene Theorie stützt, deren praktische Anwendung sie dann wäre bzw. zu sein hätte. Diese Vorstellung von quasi kanonischer Geltung wird nach meiner Erfahrung der Wirklichkeit der Balint-Arbeit nicht oder nur ganz am Rande gerecht, weshalb ich mich mit wachsender Entschiedenheit um eine Perspektive in der umgekehrten Richtung bemüht habe. Ich meine eine Blickbahn von der Praxis zur Theorie oder von unten nach oben, wie ich sie heute benenne. Eine Sehweise, die vom offenen Erfahrungsraum der Praxis ausgeht und diesen nicht verlässt, wenn das dort Wahrgenommene nach-denkend betrachtet wird. Diese Einstellung entspricht der konkreten Arbeit, mit der wir vertraut sind; in der Balint-Gruppe wird in erster Linie, wenn nicht ausschließlich, vom Praktischen her „theoretisiert”.

Auf der Suche nach entsprechender Denk- und Sprachhilfe für diese ungewohnte, der Wirklichkeit jedoch angemessenere Blickorientierung konnte ich dann freilich feststellen, dass ich mich nicht notwendig auf Abwegen, sondern in recht sehenswerter Gesellschaft befinde. Ich habe nämlich gelernt (diesmal ‚von oben‘), dass der Weg von der erlebten Erfahrung zur Theorie der ursprünglich-traditionelle Gang jeder Theoretisierung im Sinne dieses Wortes ist, nämlich vom beteiligten Hinschauen (griechisch ‚theorein‘) zur bedenkenden und ordnenden Betrachtung der Dinge oder dessen, was sich dem Hinschauen zeigt. Für die alten Griechen, speziell Aristoteles, so habe ich gelernt, gehörte das theoretische Verhalten, eben das ‚Theorien‘, selber noch zum praktischen Tun, Theorie war gleichsam die Krönung der Praxis.

Im Übrigen bin ich im letzten Sommer, also recht zeitgenössisch im Jahre 2000 n. Chr., auf einen amüsanten Text von Odo Marquard, einem deutschen Philosophen meines Alters, gestoßen, der ‚Theorie‘ beinahe noch prägnanter, zudem umgangssprachlich, mit „Sehen und Sagen, wie es ist” definiert hat. Der nur 4-seitige Essay trägt den Titel „Theoriefähigkeit des Alters”, was mich noch zusätzlich motiviert hat, die These des alternden Philosophen auch für meine Sache zu verwenden. Seine These ist die, dass unsere Fähigkeit zu unbefangenem Hinblicken und zum Sehen, wie es ist, schließlich auch zum Sagen, was wir sehen, kurz dass unsere ‚Theoriefähigkeit‘, in Anknüpfung an den alten Wortsinn, mit dem Alter zunimmt. Seine witzige Begründung stützt Marquard auf die Erfahrung, dass mit dem Wegfall von hemmenden Rücksichten, z. B. auf künftige Karriere-Schritte, ein freies Schauen, Sehen und Sagen erst möglich wird. Im Alter mit schwindender Zukunft und entsprechend schwindender Vorsicht in Bezug auf Merken, Sehen und vor allem Sagen, kann, nach der These, das „So-ist-es” immer besser in den Blick genommen werden, während das „So-hat-es-zu-sein” mehr und mehr an stringenter Bedeutung verliert.

Nun, diese Betrachtung kommt mir nicht nur in Bezug auf mein eigenes Alter, sondern fast mehr noch im Blick auf mein Thema gelegen, steht doch in der Balint-Arbeit das Hinsehen und Hinhören, sowie das Merken, was gesehen und gehört wird, also die beschriebene ‚Theoriefähigkeit‘, von Anfang an im Zentrum. Und was das entsprechende Sagen betrifft, so gehört die Aufforderung dazu gleichsam zur Propädeutik der ersten Schritte, was Balint selber in das bekannte Bonmot vom „Mut zur eigenen Dummheit” gekleidet hat. Ich konnte auch dieses Wort mit zunehmenden Alter ernster nehmen, würde allerdings in meinem heutigen Sinnverständnis die ‚eigene Dummheit‘ gern in ‚eigene Wahrheit‘ übersetzen.

Ich werde auf den so oder so schwierigen Mut zurückkommen, möchte aber vorerst meine eigene ‚Theoriefähigkeit‘ noch weiter ins Spiel bringen, und dies - auch altersabhängig - weniger im Vorausblick als im Rückblick, konkret im Hinblick auf die eigene Gewordenheit meines Theoretisierens. Wenn ich dabei auch subjektiv Erlebtes einbeziehe, ja recht eigentlich von solchen Wegspuren ausgehe, so möchte ich bitten, dies nun nicht als bloße Alterserscheinung zu werten, sondern als ernstlich zur Sache selbst gehörig.

Im Raume der Balint-Erfahrung sind wir von vornherein persönlich unterwegs, als subjektiv Erlebende in eigener Bewegung, was auch für mich heißt, dass ich selber in meinen Erinnerungen enthalten bin, von denen ich rede. Mein Thema lässt sich nicht ‚objektiv‘ von außen oder, in meinem heutigen Sprachgebrauch, ‚von oben‘ behandeln. Wenn ich es gewissen Gepflogenheiten zuliebe doch versuchen möchte, müsste ich mich unvermeidlich vom Praxis-Raum abheben, in welchem die Balint-Gruppe zu Hause ist. Der angemessene Hinblick kann hier nur ein lebendig-beteiligter ‚von unten‘ sein, nicht ein theoretischer ‚von oben‘ und schon gar nicht der ‚einzig richtige‘.

Bekanntlich beginnt jede Balintgruppen-Sitzung mit der Erzählung einer selbst-erlebten Beziehungserfahrung. Wenn ich, in Analogie dazu, so berichten wollte, müsste ich zu einer langen Geschichte ausholen. Ich will mich deshalb nur auf Aspekte beschränken, die speziell mein Thema von ‚Praxis und Theorie‘, von ‚unten und oben‘, betreffen.

Lassen Sie mich dennoch dort beginnen, wo ich selbst begonnen habe; es fällt in die Zeit, wo Balint aufhören musste. Als wir ihn, seine Frau Enid und ihre Gruppenarbeit in Sils Maria kennen lernten, wussten wir nicht, dass sie in London gerade neu damit beschäftigt waren, nicht mehr wie in den Anfängen mit vorgegebenen Konzepten oder gar Techniken aus der etablierten Psychiatrie und Psychotherapie zu arbeiten, sondern nur noch mit der sensibilisierten Aufmerksamkeit der Seminarteilnehmer. Der Akzent ihres Interesses, der sich vordem schon von der Krankheit zum Kranken verschoben hatte, verlagerte sich in jenen Jahren nochmals wesentlich, nämlich zum erlebenden Arzt als Zugang zum erlebenden Patienten, d. h. noch gezielter auf das spezifische „Zwischen” der therapeutischen Beziehung. Diese fand damit als eigene Praxis-Wirklichkeit Beachtung, nicht mehr als Bestandteil eines determinierten ‚Settings‘ und auch nicht als zusätzliche, z. B. psychologische, Sachperspektive mit neuen allgemeinverbindlichen Inhalten. Das Beziehungsgeschehen gehörte jetzt essenziell zu den beteiligten Personen, und diese Einsicht erlaubte auch mehr und mehr zu sehen, dass die entsprechende Erfahrungsdimension in Praxis und Klinik schon immer da ist, ohne von außen „eingeführt” und dann angewendet zu werden.

Konkret heißt dies, dass in den Balint-Seminaren die an sich triviale Entdeckung gemacht wurde, dass alle Ärzte unabhängig von ihrem Fach, also auch die Spezialisten, in personalen Beziehungsräumen arbeiten, und dass, was in diesen Räumen geschieht und lebt, nicht gänzlich bedeutungslos ist. Diese Entdeckung wurde später, nach Balints Tod, etwas weniger trivial, als wir sie in Sils und anderswo auch auf die Spezialisten, die wir selber sind, nämlich die Psychiater und Psychotherapeuten, zu erstrecken wussten. Jetzt zeigt sich die Differenz zwischen allgemeinem Wissen und Können einerseits und personalem Beziehungsgeschehen andererseits, d. h. zwischen oben und unten, in besonderer Schärfe, denn bei uns ist die Gefahr gleichsam vorprogrammiert, auch die spezifische Arzt-Patient-Beziehung, in die wir wie alle Therapeuten einverwoben sind, als bloße Anwendung von Theorie und Technik aufzufassen und so das Individuell-Besondere der interpersonalen Wirklichkeit durch generalisierendes Vor- und freilich auch Besserwissen wegzuverstehen. Dieser Gefahr war allein dadurch zu begegnen, dass auch wir als Psycho-Spezialisten in der Balint-Arbeit zu differenzieren lernten zwischen unseren Fachwerkzeugen und dem, was in der personalen Beziehung jeweils geschieht, speziell mit uns geschieht, d. h. dort, wo wir nicht gänzlich in unseren Rollen und Rollenidentitäten aufgehen. Diese Problematik wurde freilich auch im Hinblick auf die Gruppenleitung unumgänglich.

Zunächst möchte ich noch weiter den eigenen Erinnerungsspuren folgen und erzählen, dass wir aufgrund der Einsicht in die ubiquitäre Bedeutung des interpersonalen Beziehungsgeschehens schließlich nicht nur alle Ärzte inklusive Psychiater, sondern Schritt für Schritt alle therapeutischen Berufsgruppen und so auch interessierte Pflegepersonen an unserer Balint-Arbeit teilnehmen ließen. Das Verbindend-Gemeinsame war jetzt der berufliche Umgang mit Patienten, nicht mehr eine fachlich ausgerichtete ‚Setting‘-Gemeinsamkeit.

Auch in der Praxis der Kleingruppe wurde das Gemeinsame die Beziehungsdimension als solche, wobei sich jeder Teilnehmer und jede Teilnehmerin auf eigene Weise einbringt. Das Gruppengespräch zentrierte sich jetzt ganz auf den gegenseitigen Austausch zwischen selbsterlebenden Mit-Spielern, oder anders herum: für alle Beteiligten kam beim gemeinsamen Gespräch auch der Erlebnisraum ins Spiel, wo jeder und jede mit sich selbst im Gespräch ist. Balint nannte seinerzeit die Dimension, die nicht oben, sondern unten verbindet, ganz einfach die ‚andere Ebene‘, und bezogen auf den einzelnen Teilnehmer verkündete er gern die Spielregel, dass hier jeder „mit den eigenen Karten spielen” müsse.

Etwas weniger metaphorisch können wir das Gemeinte als Personalisierung eines im Übrigen professionellen Umgangs bezeichnen. Es geht nicht um Privatgespräche, wohl aber um personalisierte Beruflichkeit und um fortgesetztes Training in solcher Einstellung. Symptome, Befunde, Störungen und Krankheiten finden so beim Patienten ihre subjektive Innenseite, und beim Therapeuten wird das dazugehörige Wissen, auch das Wissen um entsprechendes Handeln, zur Sache einer damit umgehenden Person. Vor allem aber öffnet sich die Möglichkeit einer Verständigung, die nicht auf bloßen Informationsaustausch reduziert bleibt, sondern auch von sich her, durch sich selbst, Bedeutsames aussagt. Abstrakt-Anonymes wird auf beiden Seiten gleichsam ‚inkorporiert‘, was auch für psychische Erfahrungsbereiche gilt. Auch in psychischen Regionen wurde augenscheinlich, dass wir unten nicht auf der gleichen Ebene praktizieren, auf der wir oben für gewöhnlich theoretisieren, weshalb sich in einem Gruppengeschehen selbst die klügsten Interventionen in unpersönlicher Fachsprache (sei es im psychiatrischen, psychologischen oder psychoanalytischen Jargon) meist nur hemmend auswirken, unabhängig von ihrer fachlichen ‚Richtigkeit‘.

Die Unterscheidung zwischen unten und oben auch im psychischen Bereich verweist erneut zwingend auf das Thema der Gruppenleitung, und wenn ich dazu sogleich meine eigene Auffassung anschließen darf: Es ist für mich längst so, dass die Spezifität der Balint-Praxis, nämlich die Konzentration auf das Beziehungsgeschehen, auch bei der Leitung vorrangig ist, was bedeutet, dass auch der Leiter in erster Linie an diesem Geschehen teilnimmt und seine Aufgabe mehr als erfahrener ‚Schrittmacher‘ wahrnimmt als unter dem Aspekt eines fachkundigen Darüberstehens oder gar Belehrens. In meiner eigenen Geschichte verbindet sich diese Einstellung unvermeidlich mit einer persönlichen Ermutigung Balints, die er ebenfalls durch eine leibliche Metapher eindringlich zu machen wusste: „Es ist wie beim Skifahren” meinte er im Hinblick auf die Leiterfunktion, „jeder muss selber”. Ich habe diese Aufforderung zu eigenem Schwung und Rhythmus schon damals gern gehört, aber ihr Sinn, vorab das körperliche Element der Selbstbewegung, ist mir erst später nachhaltiger aufgegangen. Aber weiter zur Gruppenleitung: Wir sind nach Balints Ausbleiben in Sils auch generell davon ausgegangen, dass jeder Leiter „selber muss”, nämlich seinen Weg und seinen Stil finden, und dass diesbezüglich keine ‚unité de doctrine‘ anzustreben ist.

Auch bezogen auf die Teilnehmer befolgten wir weitgehend dieselbe Orientierung: Auch hier ging es vor allem um Selbstwahrnehmung, d. h. um den Einstellungswandel, der für uns alle dort beginnt, wo wir - unten - unsere Beteiligung an dem, was geschieht, merken, um dann „mit eigenen Karten zu spielen” oder „wie beim Skifahren” auf eigenen Füssen dabei zu sein.

Dass diese ‚Umstellung der Einstellung‘ in uns selbst und zu uns selbst mehr als eine subversive Revolte gegen oben, auch mehr als eine private „l’art-pour-l’art”-Übung im Subjektiv-Willkürlichen ist, dafür hat uns ebenfalls die Balint-Arbeit die Augen geöffnet, erweist sich doch die Selbstwahrnehmung des Therapeuten immer neu und oft überraschend als verlässlichste Brücke zum erlebenden Patienten. Auch dass diese Brücke von professioneller Bedeutung und auch im Hinblick auf ‚Gesund-und-krank‘ beim Einzelnen keineswegs ‚irrevelant‘ ist, bleibt in der Balint-Arbeit so wenig verborgen wie andererseits die Tatsache, dass Ärzte und Psychologen von ihrer Schulung her in der Regel mehr einen blinden Fleck für die interpersonale Brücke mitbringen als eine berufsspezifische Sensibilisierung.

Indessen muss ich mir spätestens bei diesen letzten Gedanken und Äußerungen innewerden, wie schwer es mir fällt, wirklich ‚unten‘ in der lebendigen Praxis-Wirklichkeit zu bleiben und mich nicht ins Darüber-Reden zu versteigen. Um weiteren Versuchungen in dieser Richtung entgegen zu wirken, will ich mein Thema noch konkreter von der Sache selbst her anzugehen suchen und - als Zwischeneinlage - eine Großgruppensitzung resümieren, die wir im September vergangenen Jahres in Sils Maria erlebt haben. Die Erfahrung scheint mir meine Thematik der „Oben/Unten-Dualität” recht eindrücklich zu enthalten.

Ein Internist, Chefarzt eines deutschen Kreiskrankenhauses, berichtete von der Geschichte eines ca. 60-jährigen Mannes, den er vor mehr als 20 Jahren kennen gelernt hatte, als er wegen schwerer Trunksucht quasi von der Gosse (unten!) erstmals hospitalisiert wurde. Die klinische Entwöhnung und die anschließenden Maßnahmen hatten Erfolg, der Patient blieb so genannt ‚trocken‘. Etwas später kam er wieder in die Klinik, wobei diesmal ein Karzinom im ORL-Bereich diagnostiziert, operiert und nachbehandelt wurde. Die nächste Klinikeinweisung erfolgte wegen intestinaler Blutungen; man entdeckte einen Krebs im Darm. Immer war die Medizin (von oben) erfolgreich; der Referent betonte, wie von ärztlicher Seite her alles „sehr gut verlaufen” sei, alles wäre „soweit in Ordnung” gewesen, „auch die Arzt-Patienten-Beziehung”: „es war kein komplizierter Patient”. Aber jetzt kam der Mann kürzlich erneut in die Klinik, weil er massiv abmagerte und zunehmend depressiv wurde. Unter Antidepressiva und Infusionen nahm er bald wieder an Gewicht zu, und so wäre auch diese neue Krankheit, die ‚Depression‘, kaum aus dem bisherigen Rahmen gefallen. Was aber diesmal anders war und den Kollegen auch veranlasst hatte, von der Geschichte zu berichten, war die Veränderung der therapeutischen Beziehung. Es kam zu anderen Gesprächen mit anderen Inhalten. Eine „neue Dimension” kam hinzu, meinte der Referent wörtlich, als der Patient von sich aus schlimme Erinnerungsbilder aus seiner Vergangenheit zur Sprache brachte, die den Arzt in seiner gewohnten Rolle hilflos machten, denn abgesehen von den medizinischen Diagnosen und den adäquaten Therapien war ihm der Patient bisher ziemlich unbekannt geblieben. Der Kollege schien auch kaum das bisherige Geschehen in der langjährigen Beziehung zum Patienten beachtet zu haben. Auch in der Gruppe dauerte es recht lange, bis die therapeutische Beziehung überhaupt angesprochen wurde; man intervenierte ausschließlich im Blick auf den Patienten, sprach von dessen „Verbalisierungsstörung”, seinem „neurotischen Konflikt” und Ähnlichem, bis ein Kollege aus dem äußeren Kreis die Angst und eine Kollegin die vermutete Einsamkeit des Patienten ansprach, worauf sich auch zunehmend Stimmen vernehmen ließen, die den Referenten auf seine eigene Bedeutung als Bezugsperson hinzuweisen suchten, die er im Laufe der Jahre für den Patienten erlangt haben musste. Der Arzt konnte daraufhin, d. h. mit weiterer Hilfe der Gruppe, nicht nur seine Hilflosigkeit, sondern ebenso diejenige des Patienten und damit auch dessen neue Hilfsbedürftigkeit in anderem Blick wahrnehmen. Letztere war nun nicht mehr auf der Ebene von Krankheiten zu begreifen und von oben „in den Griff” zu nehmen, sondern schien vielmehr in der Notwendigkeit einer Verständigung auf ‚anderer Ebene‘ (unten) zu bestehen. Bei der neuen Sicht und Einsicht wurde der Atem des Referenten vorübergehend beengt und schwer, aber schließlich konnte er befreit sehen und annehmen, dass es auf dieser ‚anderen Ebene‘ nicht darum gehen müsste, ein Schicksal „aufzuarbeiten” und zu „sanieren” bzw. auch hier alles „in den Griff” zu bekommen, wohl aber darum, diesen Patienten dort zu hören und wahrzunehmen, wo er sich jetzt erstmals zu äußern begann, wo er bisher sprachlos gewesen war.

Lassen Sie mich auch auf diese kurze Zusammenfassung eines Gruppenverlaufes wieder „theoretisierend” hinblicken: Ich hoffe einigermaßen vermittelt zu haben, dass es vor allem die Gruppe der zuhörenden und antwortenden Teilnehmer war, die den Referenten zu einem erweiterten Blick befreien konnte. Die sachlichen Informationen gewannen durch die Resonanz und das Wechselgeschehen zunehmend an Konkretheit, wobei zuerst der Arzt, dann aber auch der Patient mehr und mehr als Person in Erscheinung trat. Man kann diesen immer neu erlebten Prozess der Verlebendigung eines nüchternen Berichtes schwer beschreiben, er vollzieht sich im spielerischen „Zwischen”, an dem letztlich alle beteiligt sind, der oder die Gruppenleiter als „Hüter des Dialogs”, wie ich diese Funktion gern bezeichne. - Was ich speziell nochmals hervorheben möchte, ist das zögernde Innewerden der eigenen Beziehungsbedeutung des Referenten, was zunächst von sichtlicher Beunruhigung begleitet war, dann aber als befreiend erfahren wurde. Der Arzt konnte sehen, dass sein Patient nicht sogleich einen neuen Sachverstand brauchte, als er seinem ‚Doktor‘ auch etwas von sich zu erzählen wünschte und dies vielleicht auch erst jetzt vermochte. Vielleicht kann ich mit diesem Hinweis nochmals den Unterschied veranschaulichen, den ich zwischen der Ebene des Sachverstandes schlechthin und der ‚anderen Ebene‘, wo es um Verständigung als solche und als diese geht, vor Augen führen möchte.

Diese Differenz ist von mir anvisiert, wenn ich von ‚oben und unten‘ spreche bzw. vom Spannungsfeld zwischen Theorie und Praxis. Ich habe dieses Spannungsfeld schon wiederholt ‚von oben‘ zu beschreiben versucht und möchte heute auch dazu möglichst ‚von unten‘ theoretisieren, indem ich abschließend noch einmal konkret auf meine Sache, die Balint-Arbeit, hinblicke. Ich wage dabei einen Vergleich mit dem Theater und würde meinen, dass jede Gruppensitzung eine Art von Bühne öffnet, wo im Sinne von ‚theorein‘ sehr unmittelbar auf eine bestimmte Beziehungswirklichkeit aus der Praxis hingeschaut wird. Wer schaut hin und wer stellt dar? Die Teilnehmer selber als Beteiligte, inklusiv die Leiter. Und was kommt zur Darstellung? Was wird gespielt? Verschiedenes, aber im Grunde doch immer, wenn auch in verschiedenen Fassungen, der Widerstreit zwischen ‚oben und unten‘, das Kräftespiel zwischen Impulsen, die von ‚unten‘, dem offenen Erfahrungs- und Erlebensraum her, zur Sprache und zur Mitteilung drängen, und anderen Kräften, welche diese Impulse ordnen, verstehen, in den Griff nehmen, deuten, erklären möchten. Von unten drängt stets ein vielschichtiges und schwer zu begrenzendes „Mehr-als” auf die Bühne, von oben sucht gern das reduzierende „Nichts-als” das Szepter zu führen. Zwischen diesen beiden Polen spielt essenziell das jeweilige ‚Stück‘.

Auf der Bühne jeder Gruppensitzung erleben wir aber auch, wie alle Teilnehmer an diesem Kräftespiel in je eigener Weise, nach persönlichen Möglichkeiten, teilhaben. Alle haben ihre Rollen und sind zugleich als Rollenträger im gleichen Spannungsfeld engagiert. Das Eigene wird speziell spürbar, wenn das Gruppengeschehen intensives Erleben auslöst, das individuell berührt und „unter die Haut geht”. Rationalisierende Verallgemeinerungen, Erklärungen, Ratschläge ‚von oben‘ werden dann mit Vorliebe als Ausflucht verwendet, und wir erfahren „hautnah”, wann solche Notausgänge gebraucht werden, und auch oft, dass und inwiefern sie im gegebenen Moment notwendig sind. Es geht hier nicht um ‚richtig und falsch‘, sondern um individuelles Erleben des Spannungsfeldes im Gruppengeschehen.

Beim Hinschauen auf die Gruppe als ‚Bühne‘ gewahren wir am Ende ein lebendiges Gebilde von Hinschauenden, die im wechselseitigen Austausch das Spannungsfeld von ‚unten und oben‘ verkörpern und es gleichzeitig individuell in je „eigener Haut” erleben. Die ‚Bühne‘ öffnet Blicke auf eine Praxiswirklichkeit, die ‚oben‘ auf der Ebene der Modelle, Konzepte, Methoden und Schulen nicht oder nur verzerrt zu fassen ist, was sie nicht hindert, ‚unten‘ im Alltäglichen von bedenkenswerter Bedeutung zu sein.

Dr. med. Arthur Trenkel



Via Madonna della Salute 30

CH-6900 Massagno

    >