Gesundheitswesen 2002; 64(11): 565-571
DOI: 10.1055/s-2002-35519
Originalarbeit
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Bekanntheitsgrad der Härtefallregelungen in der gesetzlichen Krankenversicherung

Knowledge of „Hardship Exemptions” in Statutory Sickness InsuranceM. Eller1 , F. Baumann2 , A. Mielck1
  • 1Institut für Gesundheitsökonomie und Management im Gesundheitswesen, GSF München-Neuherberg
  • 2AOK Augsburg
Further Information

Publication History

Publication Date:
20 November 2002 (online)

Zusammenfassung

Ziel der Studie: Die Härtefallregelungen innerhalb der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) sollen einkommensschwache bzw. durch Zuzahlungen stark belastete Versicherte vor „sozialen Härten” schützen. Die Studie zielt darauf ab, den Bekanntheitsgrad der Härtefallregelungen unter den Versicherten zu erfassen sowie die Gründe herauszufinden, warum diese Regelungen ggf. nicht in Anspruch genommen werden. Ein weiteres Ziel des Projekts besteht darin, die Zahl der Versicherten zu schätzen, die einerseits härtefallberechtigt sind, die andererseits aber die Befreiung nicht in Anspruch nehmen. Es bestehen große Forschungslücken in diesem Themenbereich; den Autoren ist bislang keine deutschsprachige oder internationale Untersuchung bekannt, die sich mit diesem Thema eingehender befasst.

Methoden: Durch eine erste schriftliche Befragung im Mai 2000 von 18 238 AOK-Versicherten wurde die Zahl potenziell härtefallberechtigter Personen durch Fragen nach dem Haushaltseinkommen, der Zahl der Haushaltsmitglieder und der Höhe der geleisteten Zuzahlungen zu Arzneimitteln, Zahnersatz und anderen medizinischen Leistungen geschätzt. Mit 1 002 Versicherten, die die Befreiung nicht in Anspruch nehmen (darunter Arbeitslose und Sozialhilfeempfänger sowie eine Kontrollgruppe mit 202 Befragten), wurde im Herbst 2000 eine CATI-(Computer assisted telephone interviewing-)Befragung durchgeführt. Die Probanden wurden dabei ausführlich zu härtefallrelevanten Themen befragt.

Ergebnisse: Die Härtefallregelungen sind bei den CATI-Befragten nur eingeschränkt bekannt. Knapp zwei Drittel der CATI-Befragten (61,58 %) kennen die Überforderungsklausel (Rückerstattung der geleisteten Zuzahlungen) nicht, 27,78 % der Befragten ist die Sozialklausel (Befreiung von den Zuzahlungen) kein Begriff. Die meisten Befragten haben von Freunden, Bekannten und Verwandten von diesen Regelungen erfahren, an letzter Stelle stehen Informationen durch Ärzte und andere Gesundheitsprofessionen. Unter den Gründen, warum eine Befreiung nicht in Anspruch genommen wurde, wird am häufigsten das vermutlich zu hohe Einkommen genannt. Seltener werden Ursachen angeführt, die auf der Komplexität des Antrags beruhen oder sich auf mögliche Schamgefühle bei der Antragstellung beziehen.

Schlussfolgerung: Der Bekanntheitsgrad der Härtefallklauseln sollte noch erhöht werden, um auf diese Weise allen einkommensschwachen und/oder durch Zuzahlungen stark belasteten Versicherten die Möglichkeit einer Befreiung von Zuzahlungen zu bieten. Da die meisten Befragten über den Freundes- und Bekanntenkreis von den Klauseln erfahren haben, ist offenbar eine bessere Information der Patienten durch Ärzte und medizinisches Personal wichtig. Die drei meistgenannten Gründe, warum kein Antrag gestellt wurde, beziehen sich auf finanzielle Aspekte. Auch hier könnte eine bessere Informationspolitik im Sinne von vereinfachten Beispielen zur Berechnung der Einkommensgrenzen Abhilfe schaffen. Nur so kann durchgesetzt werden, dass die Möglichkeit zur Inanspruchnahme der Härtefallregelungen allen anspruchsberechtigten Versicherten offen steht.

Abstract

Objectives: The German Statutory Sickness Fund comprises about 90 % of the total population. There are special relief or ‘hardship’ regulations in the Statutory Sickness Fund (the ‘Härtefallregelungen’) exempting those insured persons from co-payment for whom the co-payments would be an undue financial burden. The most important research questions are: How many of the insured persons do actually know about the possibility of being exempted? How did this group learn about the possibility? How many insured are not exempted from co-payment although they are entitled to be exempted? Why didn’t they apply? According to our knowledge there is no comparable national or international study in this field of research.

Methods: The data for the empirical study are collected in a Statutory Sickness Fund in the city of Augsburg (Southern Germany). 18 238 insured (pre-selected as not being exempted from co-payments, but probably entitled to be exempted) were addressed with a very short questionnaire in September 2000. They were asked about their household income, the number of the household members and the money spent for co-payments for medicaments, dental prostheses and other health-related services, in order to identify those entitled to be exempted, and a control group. Among those who responded 1.002 persons were interviewed by CATI (Computer Assisted Telephone Interview).

Results: Within the study group interviewed by CATI there was only limited knowledge about the „Härtefallregelungen”. About two-thirds of the respondents (61.58 %) were unfamiliar with the possibility of getting an annual reimbursement of the co-payments. Less than one-third (27.78 %) knew nothing about the regulation of being totally exempted from co-payments. Most persons learnt about the regulations from friends and relatives, but few from physicians and other health professionals. One of the reasons most frequently mentioned for not applying for the „Härtefallregelungen” was a presumably too high income. Reasons which lie within the formalities of the application or refer to the potentially embarrassing situation were reported less often.

Conclusion: Knowledge about the possibilities of being exempted from co-payments for medicaments and other health-related services and goods should be increased. With most of the respondents having learnt about the „Härtefallregelungen” from friends and relatives, patients could get relevant information from physicians and other health professionals more frequently. As financial aspects are the reasons reported most for not applying for the „Härtefallregelungen”, the information policy could be enhanced e. g. by simplified examples for calculating the relevant income for being entitled. This way there is a chance that all insured persons who are entitled will actually benefit from the „Härtefallregelungen”.

Literatur

  • 1 Weber M, Braun B. Gesundheitspolitische Konsequenzen aus den Forschungsergebnissen zur sozialen Ungleichheit der Gesundheit in Deutschland. Helmert U, Bammann K, Voges W, Müller R Müssen Arme früher sterben? Weinheim, München; Juventa 2000: 303-318
  • 2 Pfaff A, Busch S, Rindsfüßer C. Kostendämpfung in der gesetzlichen Krankenversicherung. Auswirkungen der Reformgesetzgebung 1989 und 1993 auf die Versicherten. Frankfurt, New York; Campus 1994: 153ff
  • 3 Müller H, Hebel D. Gesundheitsberichterstattung mit GEK-Daten. Helmert U, Bammann K, Voges W, Müller R Müssen Arme früher sterben? Weinheim, München; Juventa 2000: 223-242
  • 4 Weitkunat R, Crispin A. Computergestützte Telefoninterviews.  Zeitschrift für Gesundheitswissenschaften. 2000;  2 106-113
  • 5 Lundberg L, Johannesson M, Iscson D, Borgquist L. Effects of user charges on the use of prescription medicines in different socio-economic groups.  Health Policy. 1998;  44 123-134
  • 6 Peled R. The effect on drug co-payment on purchasing prescription drugs for children with infection in the community-the damage in equality. Unveröffentlichtes Manuskript. Israel; Barzilai Medical Center, Epidemiology Department

Dipl.-Soz. Martina Eller

GSF - Forschungszentrum für Umwelt und Gesundheit, Institut für Gesundheitsökonomie und Management im Gesundheitswesen (IGM)

Ingolstädter Landstraße 1

85764 München-Neuherberg

Email: eller@gsf.de

    >