Balint Journal 2002; 3(2): 56-57
DOI: 10.1055/s-2002-32383
Glosse
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Anregungen vom „Bundes-Leistungs-Hüten” für die Qualitätssicherung der Balint-Gruppenleitung

Ernst Schumacher1
  • 1Göppingen
Further Information

Publication History

Publication Date:
20 June 2002 (online)

Ich wohne am Rande der Schwäbischen Alb in einem kleinen Dorf mit langer Schäfertradition. Vor einiger Zeit fand hier ein Hütewettbewerb statt, für den ich mich interessierte, um etwas von den Wurzeln unseres Dorfes zu erfahren. Bei meinem Eintreffen hatte das Hüten schon begonnen. Ich stellte mich zu einer Beobachtergruppe von Männern mit weiten Mänteln - Oderbruch-Schäfer aus Brandenburg - mit offen zugewandten Gesichtern.

Ob die Qualität der ostdeutschen Schäfer besser sei als die der süddeutschen, fragte ich sie - und, wie man dies denn überhaupt objektiv beurteilen könne? Ob sie sich nicht durch das Preisgericht der hier manchmal etwas rauhen Schwaben übervorteilt fühlen würden . . .

Gutmütiges Lachen: „Dieser Schäfer, der gerade seine Herde einpfercht, wird 95 Punkte bekommen; der vorige 89 Punkte. Das wirst du gleich sehen.” - Tatsächlich stimmte die Beurteilung punktgenau. Wie war das möglich?

Als ich mir später die erstandene Infobroschüre durchlas, fand ich hier die Richtlinien genau beschrieben. Ich war erstaunt, wie klar und einfach die Regeln sind.

Mir kam eine Idee: ich könnte doch die Leistungskritierien des Hütewettbewerbs auf die Qualitätssicherung von Balint-Gruppenleitung übertragen. Die Analogien sprangen mir geradezu ins Auge.

Los geht’s, 100 Punkte können maximal erreicht werden.

1. AUSPFERCHEN (maximal 6 Punkte): Der Schäfer geht um oder in das Pferch, um Kontakt zu den Schafen zu erhalten, schickt den Hütehund mittels Hürdensprung ins Pferch. Dieser bleibt an der günstigsten Stelle ruhig stehen, während der Schäfer durch Rückwärtsgang die Schafe anlockt und den Austrieb erwirkt. Der Hütehund räumt seinen Platz erst, wenn das letzte Schaf den Pferch verlassen hat, es sei denn, die Herde bricht in einer nicht gewünschten Richtung aus . . .

Ich vergleiche:
ERÖFFNEN DER BALINT-GRUPPE: Der Balint-Gruppenleiter begrüßt die Gruppe, nimmt Kontakt auf, stellt die Zielrichtung der Balint-Arbeit dar, übt verhalten Druck aus oder lockt die Gruppe zu Fantasien über die vorgestellte Arzt-Patient-Beziehung. Er gibt Struktur und fokussiert die Problemstellung des Referenten . . .

2. VERHALTEN IM ENGEN GEHÜT (maximal 10 Punkte): Die Herde muss auf einem schmalen Rasenstreifen ihr Futter einnehmen . . .

Negativ beurteilt wird: Der Hütehund . . . verlässt mehrmals die Grenze, stößt in die Herde, . . . bringt die Herdenspitze zum Kippen, zeigt wenig Eifer, bleibt längere Zeit stehen, setzt oder legt sich . . .

 BALINT-GRUPPENARBEIT „WENN ES EINMAL ENG WIRD”: Die Balint-Gruppe versucht, das Thema „Arzt-Patient-Beziehung” zu verlassen und muss vom Gruppenleiter zurückgerufen werden. Wie geht er vor? Erkennt er, wann er die Gruppe allein arbeiten lassen kann, ohne dass seine nachlassende Aktivität einen negativen Effekt hat? Oder setzt er sich an die Spitze, gibt er die Richtung vor mit seiner Hypothese über das Beziehungsproblem? Engt er die lebendige Gruppenarbeit dadurch ein, bringt er Teilnehmer zum Schweigen? . . .

3. HINDERNISSE UND VERKEHR (maximal 10 Punkte): Auf einem genügend weiten Weg wird die Herde geführt, so dass ein von vorn kommendes Auto langsam an der Herde vorbeifahren kann.

Fehlerhaft: der Hütehund hat Angst vor dem Fahrzeug, stößt in die Herde und verursacht Unruhe, sprengt einzelne Schafe ab, schafft zu wenig Raum zwischen dem Fahrzeug und der Herde.

 HINDERNISSE UND GEFAHREN BEI DER BALINT-GRUPPENARBEIT: Wie weit ist der Balint-Gruppenleiter in der Lage, den Referenten und die Gruppe zu schützen? Welche Fehler macht er? Isoliert er einzelne Gruppenmitglieder? Stößt er mit eigenen Beiträgen in die Gruppe und verursacht Konfusion? Schafft er zu wenig Raum für Gefühle? Sieht er Gefahren? Oder hat er selber Angst z. B. vor aggressiven Affekten? Hat er zu wenig Distanz zum Problem, ist er involviert?

4. VERHALTEN IM WEITEN GEHÜT (maximal 10 Punkte): Der Hirte zieht seiner Herde voran und weist den Schafen so den Weg ins weite Gehüt. Er lässt die Herde in das großflächige Gelände mit mehrseitigen Grenzen einziehen und ruhig weiden. Der Hütehund muss an der Außenseite aufmerksam agieren, wehren und wenn notwendig, die Herde begleiten . . .

 FREIES FANTASIEREN IN DER BALINT-GRUPPE: Schafft der Leiter den Raum für freie Fantasien, ermutigt er, geht er voran? Gibt er Sicherheit, indem er Grenzen zieht? Ist er gleichzeitig Schutz und aufmerksamer Beobachter? Behält er den Referenten im Auge?

Und so ginge es weiter, z. B. mit
5. GRIFF: In jeder Herde gibt es Schafe, die auch vor einem Hütehund keinen oder nur wenig Respekt haben und genau wissen wollen, wer bei der Herdenarbeit das Sagen hat. Um sich diesen Respekt zu verschaffen und von der Herde anerkannt zu werden, muss er ab und zu einen fachgerechten Griff zeigen . . . Unnötiges und vieles Beißen ist fehlerhaft . . . Verletzungen dürfen nicht entstehen . . .)
6. FLEISS; 7. SELBSTÄNDIGKEIT etc.
10. GEHORSAM: . . . Ein brauchbares und zufriedenstellendes Hüten setzt eine vernünftige und verständnisvolle Ausbildung voraus, aus der sich dann ein gutes Zusammenwirken ergibt . . . Wesentliche Beurteilungspunkte für die Führungsnote sind Ruhe und Sicherheit seitens des Schäfers, sowie Liebe, Vernunft, Verständnis und Einfühlungsvermögen für die Kreatur.

Ich überlege mir, welche Analogien darin noch stecken könnten. Ist der Balint-Gruppenleiter Schäfer und Hütehund in einem? Oder wäre er der Schäfer und der Co-Leiter der Hütehund? Was ist wichtig für die Ausbildung zum Balint-Gruppenleiter? Welchen Regeln folgt er?

 „Was macht das große Interesse an diesem Hüte-Wettbewerb aus?” ist meine letzte Frage an die Oderbruchschäfer. Ihre Antwort: „Ein gut ausgebildeter Hütehund mit hoher Punktwertung wird mit 30.000,- DM gehandelt, seine noch unausgebildeten Nachkommen mit 3.000,- DM.

Was hätte nun das auch schon wieder für den Vergleich mit der Qualifikation als Balint-Gruppenleiter zu bedeuten?

Dr. Ernst Schumacher

Burg-Ecke Freihofstr. 53

73033 Göppingen

Phone: 07161-686788

    >