Dtsch Med Wochenschr 2002; 127(17): 895
DOI: 10.1055/s-2002-25377
Editorial
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Interdisziplinäre Tumortherapie - ein Gebot der Stunde

Interdisciplinary tumour treatment: dictate of the momentJ.-R Siewert
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Publication Date:
25 April 2002 (online)

Prof. Dr. J.-R. Siewert, München

Krebs ist nur anfangs - wenn überhaupt - eine lokalisierte Erkrankung. Rasch ist sie eine Erkrankung des ganzen Organismus. Dieselbe Aussage gilt für die Therapie; nur in echten Frühstadien ist die Therapie monodisziplinär, sehr rasch wird sie interdisziplinär. Diese Binsenweisheit ist allen onkologisch tätigen Ärzten seit vielen Jahren bewusst. Dennoch ist die Interdisziplinarität der Therapie bislang nicht institutionalisiert und strukturell gesichert.

Schon vor vielen Jahren hat die Deutsche Krebshilfe versucht, über die Gründung von Tumor-Zentren die onkologische Versorgung in Deutschland zu verbessern. Diese Zentren haben großartige Arbeit auf dem Gebiet der onkologischen Epidemiologie und in der Erstellung von regionalen Leitlinien geleistet. Zur Interdisziplinarität der Tumortherapie haben sie dagegen nur einen marginalen Beitrag geleistet. Zwar haben sich verschiedene Disziplinen auf Rahmenrichtlinien innerhalb der verschiedenen Tumor-Zentren geeinigt, in der praktischen Tätigkeit am Patienten blieb diese Interdisziplinarität aber dem Zufall überlassen.

Eine andere wesentliche Erkenntnis der letzten Jahre blieb ebenfalls unbeachtet. Alle neueren Forschungsergebnisse zeigten eindeutig, dass die Tumortherapie der Individualisierung, bezogen auf den Einzelpatienten, bedarf. Mit der über Jahre hinweg ständig verbesserten Diagnostik ist es möglich geworden, immer detailliertere Einblicke in die ganz individuelle Tumorsituation bzw. das Tumorstadium des Einzelpatienten zu gewinnen. Diese Erkenntnisse benötigen dringend der Umsetzung im Hinblick auf therapeutische Konsequenzen.

Auch die Tumortherapie des Einzelpatienten bedarf somit der Individualisierung. Diese Zielsetzung konnte über die Tumor-Zentren nicht erreicht werden, weil die Therapie des Einzelpatienten in ihrer Konzeption nicht vorgesehen war. Hierfür werden viel mehr interdisziplinäre Tumortherapie-Zentren (sog. Cancer Center) benötigt. Hier muss organisatorisch und strukturell die Kooperation zwischen den an der Tumortherapie beteiligten verschiedenen Fachrichtungen abgesichert werden. Dafür ist zum einen die Bereitschaft zur Kooperation der verschiedenen in die Tumortherapie eingebundenen Ärzte, zum anderen aber auch die moderne Informationstechnologie notwendig. Nur mit Hilfe ihrer können alle für die Therapieentscheidung relevanten Daten des Einzelpatienten virtuell zusammen geführt werden und als Entscheidungsgrundlage an einem Ort präsent gemacht werden. Auf diesem Fundament zuverlässiger Diagnostik kann dann ein interdisziplinär zusammengesetztes Tumorboard ein individuelles Therapiekonzept für den Patienten erstellen.

Wenn die Kooperation zwischen den einzelnen Disziplinen einmal so abgesichert ist, erhebt sich dann auch die Frage nach einer gemeinsamen Tätigkeit am Patienten im praktischen Alltag. Hier bietet sich zunächst einmal der Aufbau einer gemeinsamen Ambulanz, z. B. in Form einer onkologischen Poliklinik an. Alle onkologisch interessierten Disziplinen müssen hier räumlich vereint, initial den Einzelpatienten gemeinsam sehen und das gewünschte diagnostische Procedere festlegen. Vorstellbar ist natürlich auch, das es in einem Klinikum interdisziplinäre diagnostische onkologische Betten geben könnte. Die einzelnen Therapieprinzipien werden jedoch noch über lange Zeit methodenspezifisch sein und damit auch dislozierter fachspezifischer Betten bedürfen.

Um in der interdisziplinären Tumortherapie wirklich erfolgreich sein zu können, müsste sich allerdings noch die Erkenntnis durchsetzen, dass interdisziplinäre Entscheidungen am besten und am erfolgreichsten ganz zu Beginn der Erkrankung, d. h. zum Zeitpunkt der Erstdiagnose getroffen werden können. Dazu ist die Mitarbeit der niedergelassenen Kollegen, aber auch der onkologisch tätigen Kollegen in den Krankenhäusern der Grund- und Regelversorgung notwendig. Nicht erst fachspezifisch therapieren, nach dem Motto „es kommt die Methode zum Einsatz, die dem Doktor zur Verfügung steht“, sondern rechtzeitige Vorstellung des Patienten - z. B. via Telekommunikation - in derartigen interdisziplinären Zentren und dann erst Beginn der Therapie im Rahmen eines gemeinsam erstellten interdisziplinären Therapiekonzepts. Erst wenn sich diese Einsicht durchsetzt, wird auch die Individualisierung der Tumortherapie „Früchte tragen“.

In diesem Heft der DMW werden erste Entwicklungen auf diesem Gebiet dargestellt, in der Hoffnung die flächendeckende Institutionalisierung derartiger Zentren anzuregen und die Politik zur konstruktiven Begleitung zu gewinnen.

Univ.-Prof. Dr. med. J.-R. Siewert

Direktor der Chirurgischen Klinik und Poliklinik der TU München, Klinikum Rechts der Isar

Ismaninger Straße 22

81675 München