Gesundheitswesen 2002; 64(4): 189-192
DOI: 10.1055/s-2002-25201
Festvortrag
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Soziales Kapital und Gesundheit

Social Capital and HealthJ. Siegrist
  • 1Institut für Medizinische Soziologie der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf
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Publication Date:
19 April 2002 (online)

Wie Gesellschaft krank macht, ist eine Frage, welche Wissenschaftler beider Fachgesellschaften, der Deutschen Gesellschaft für Sozialmedizin und Prävention und der Deutschen Gesellschaft für Medizinische Soziologie, gleichermaßen bewegt. Während Letztere das theoretische und methodische Rüstzeug der Soziologie zum Gewinn neuer Erkenntnisse einsetzt, befasst sich Erstere mit den präventiven und rehabilitativen Auswirkungen solcher Erkenntnisse sowohl auf Individual- als auch auf Bevölkerungsebene. Die produktiven Chancen des Dialogs zwischen Vertretern beider Fachgesellschaften lassen sich anlässlich gemeinsamer Veranstaltungen wie diesem Jahreskongress besonders gut nutzen.

Das Rahmenthema dieses Kongresses heißt „Gesundheit in der Region”. Vielleicht lässt sich das, was Soziologie als theoretische Disziplin zu diesem Thema beitragen kann, am besten an dem Begriff des sozialen Kapitals verdeutlichen, einem Begriff, der gegenwärtig Hochkonjunktur hat. Nachfolgend möchte ich einige Betrachtungen zum Stand der Forschung über den Zusammenhang zwischen sozialem Kapital und Gesundheit anstellen, um sodann eine Brücke zu neueren Überlegungen und Forschungsergebnissen aus unserem eigenen Arbeitskreis zu schlagen.

Der Terminus „soziales Kapital”, von James Coleman [1] und Robert Putnam [2] vor gut zehn Jahren in die Forschung eingeführt, bezeichnet eine spezifische Qualität des Zusammenlebens von Menschen in überschaubaren Räumen, also Regionen. Von dieser Qualität gehen, so die Hypothese von Forschern wie Ichiro Kawachi [3], Bruce Kennedy [4] oder Richard Wilkinson [5], starke Effekte auf die subjektive und objektive Gesundheit sowie auf das Mortalitätsrisiko der in der Region lebenden Menschen aus. Um diese spezifische Qualität menschlichen Zusammenlebens empirisch zu fassen, hat Robert Putnam einen Index konstruiert, den er „Index of Civic Community” nannte, Index einer „zivilgesellschaftlichen Kommune” [2]. Was meinte er damit? Drei Indikatoren standen für ihn im Zentrum: 1. das Ausmaß sozialer Netzwerkbildung in sekundären Gruppen, d. h. in Vereinen und freiwilligen Zusammenschlüssen, 2. das allgemeine Klima des Vertrauens in einer Gemeinde und 3. die Geltung von Normen und Werten gegenseitiger Hilfe oder sozialer Reziprozität. Soziales Kapital umfasst somit jene Elemente des sozialen Zusammenlebens, welche gemeinschaftliche Aktivitäten zu gegenseitigem Nutzen fördern.

Putnam war primär nicht an der Frage interessiert, welche Bedeutung soziales Kapital für die Gesundheit besitzt. Ihm ging es um die Aufklärung wirtschaftlichen Erfolgs sowie des Funktionierens demokratischer Institutionen. Aber mit ihrer 1997 im American Journal of Public Health erschienenen Arbeit zielten Ichiro Kawachi u. Mitarb. auf genau diesen Zusammenhang ab [3]. Sie zeigten, dass jeder der drei Indikatoren Putnams, aus Umfrageergebnissen ermittelt und auf die Ebene von Bundesstaaten hochaggregiert, mit der altersstandardisierten Mortalitätsrate pro Bundesstaat korrelierte. Die Korrelationskoeffizienten waren substanziell, sie lagen zwischen 0,49 und 0,79. Der eigentliche Sprengstoff dieser Arbeit lag jedoch darin, dass die Einführung dieser drei Variablen in eine Pfadanalyse der Mortalität den - jahrelang als unumstößlich gehaltenen - Effekt von Einkommensungleichheit auf die Sterblichkeit nivellierte oder, wie die Autoren interpretierten, moderierte. Disparität der Einkommen, so Kawachi et al., wirkt toxisch auf die Gesundheit, weil der Egoismus der Wohlhabenden die Einkommensschwächeren sozioemotional deklassiert, weil permanent ungünstige soziale Vergleichsprozesse hervorgerufen werden, weil Misstrauen und sozialer Rückzug das Gemeinschaftsgefühl - und mit ihm das Wohlbefinden - schmälern.

Mit dieser sozialpsychologischen Erklärung stützt Kawachi die These Richard Wilkinsons, die lautet: Nicht materielle Armut beeinflusst das Sterberisiko in modernen Gesellschaften, sondern die als unfair erfahrene Disparität von Lebenslagen, die an der wachsenden Ungleichheit der Einkommensverteilung in der Bevölkerung abzulesen ist: Je größer die Einkommensdisparität in einer Gesellschaft, gemessen am Gini-Koeffizienten oder am Robin-Hood-Index, desto höher die Mortalität [5].

Bekanntlich hat diese These die Neomaterialisten mit der Gegenthese auf den Plan gerufen, dass der Effekt von Einkommensdisparität auf Gesundheit, soweit er sich nicht ohnehin durch das Verteilungsmuster der Individualeinkommen erklären lässt, auf die Vernachlässigung von Investitionen in eine gesundheitsförderliche öffentliche Infrastruktur zurückzuführen ist [6] [7]. Wenn Reich und Arm sich auseinander entwickeln, so lautet die These, wird die Qualität öffentlicher Schulen, öffentlichen Verkehrs, öffentlicher Erholungsstätten usw. für die Mehrheit schlechter und schlechter. Materielle und nicht vielmehr psychosoziale Einflüsse vermitteln nach dieser These den Zusammenhang zwischen Einkommensungleichheit und Sterberisiko.

Die Kontroverse zwischen einer sozialpsychologischen und einer neomaterialistischen Interpretation des Zusammenhangs von sozialem Kapital und Gesundheit hat ihren vorläufigen Abschluss in zwei Beiträgen im British Medical Journal im April des vergangenen Jahres [7] sowie in einem jüngst publizierten Artikel im Lancet gefunden [8]. Es lohnt sich, angesichts der wissenschaftspolitischen Aktualität des Themas die Hauptargumente der Neomaterialisten gegen eine sozialpsychologische Erklärung kurz zu erläutern.

Das erste Argument von John Lynch, George Kaplan, George Davey Smith und James House lautet, dass der Zusammenhang zwischen Einkommensdisparität und Gesundheits- bzw. Mortalitätsindikatoren nicht universell gültig ist, wie durch das sozialpsychologische Gesetz unterstellt wird [7]. So zeigt sich beispielsweise ein solcher Zusammenhang in Kanada nicht [9]. Auch eine Überprüfung von Wilkinsons These anhand neuerer und vollständigerer Daten aus der Einkommensstatistik der OECD-Länder zeigt, dass die Korrelation zwischen Einkommensdisparität und Mortalität einer Bevölkerung auf Aggregatebene praktisch verschwindet. Der Effekt hängt wesentlich, so die Autoren, von der Auswahl der in die statistische Analyse einbezogenen Länder ab [8].

Zweitens werden von den Autoren Daten vorgestellt, die zeigen, dass die von Kawachi et al. benutzten Indikatoren des sozialen Kapitals stärker mit der Höhe des Bruttosozialprodukts pro Kopf der Bevölkerung als mit Aggregatindikatoren der Einkommensdisparität der Bevölkerung zusammenhängen [10]. Dieses Argument stärkt die These jener Ökonomen, die wie Ken Judge und andere behaupten, dass der Effekt von Einkommensungleichheit in einer Population sich auf die aggregierten Effekte der Beziehung zwischen individueller Einkommenshöhe und Gesundheit zurückführen lässt, wenn nur genügend valide und differenzierte Informationen über das Individualeinkommen vorliegen [11]. In statistischer Terminologie: Kontexteffekte, die auf Aggregatdatenebene registriert werden, lassen sich auf kompositionale Effekte zurückführen, welche auf Individualdatenebene erzeugt werden.

Drittens schließlich wird argumentiert, dass die von Kawachi et al. verwendeten Indikatoren sozialen Kapitals, die in Bevölkerungsumfragen in den USA seit den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts gleich lautend erhoben werden, sich in diesem Zeitraum in ihrer Prävalenz kaum verändert haben. Dies lässt sich schlecht mit der Beobachtung in Einklang bringen, dass in den letzten 20 Jahren die Einkommensungleichheit tatsächlich drastisch zugenommen hat [10].

Wo stehen wir also heute angesichts der wichtigen Frage, wie sich soziales Kapital auf die Gesundheit einer Bevölkerung auswirkt? Hat die neomaterialistische Doppelerklärung, die einerseits die individuelle materielle Lage und andererseits den Verfall öffentlicher Infrastruktur im entwickelten Kapitalismus ins Feld führt, das letzte Wort? An dieser Stelle mag es nützlich sein, die beiden Prämissen bisheriger Forschung kritisch zu betrachten, die Prämisse, soziales Kapital sei ein Konstrukt, das sich am besten auf der Ebene von Aggregatdaten messen lasse, und die Prämisse, soziales Kapital sei am besten anhand des putnamschen Index einer „Civic Community” zu erfassen.

Betrachten wir letztere Prämisse, so stellt sich unweigerlich die Frage, was die Messung einer zivilgesellschaftlichen Kommune eigentlich von der Messung sozialer Netzwerkstrukturen unterscheidet. Ist dies lediglich alter Wein in neuen Schläuchen? Denn „Mitgliedschaft in sekundären Gruppen”, „Vertrauen” und „gemeinschaftliche Aktivitäten zu gegenseitigem Nutzen” bilden Merkmale, die auch aus der Analyse sozialer Netzwerkstrukturen erschlossen werden können. Was hier offenbar fehlt, ist der Bezug zum Kapitalbegriff im engeren ökonomischen Sinn. Unter Kapital kann man eine Ressource verstehen, die dem gegenwärtigen Konsum in Erwartung zukünftiger Gewinne entzogen wird. So bildet das Humankapital die dem aktuellen Freizeitkonsum entzogene Bildungsinvestition, die sich später in höheren Löhnen auf dem Arbeitsmarkt auszahlt. Kapitalinvestitionen erfolgen nach der Erwartungs-Wert-Theorie bei subjektiv realistischen Belohnungskalkülen. Was bedeutet dieses engere Verständnis von Kapital nun für eine spezifischere operationelle Erfassung von sozialem Kapital?

Nach dem Gesagten kann soziales Kapital als Summe der von den einzelnen Mitgliedern einer Gemeinschaft investierten Zeit, Energie und Leistung in gemeinsame Aktivitäten verstanden werden, an die je individuelle zukünftige Gewinnerwartungen gerichtet sind. Beispielsweise baut ein Elternverein einen Kinderspielplatz in der Nachbarschaft in Erwartung seiner wechselseitigen Nutzung durch die Vereinskinder. Oder eine Bürgerinitiative findet sich zu aufwändigen Unterschriftsaktionen zusammen, um mit einer Eingabe bei der Stadt den Bau einer Schnellstraße durch ihr Wohngebiet zu verhindern. Investitionen in gemeinschaftliche Aktivitäten sind aber nicht auf materiellen Nutzen begrenzt. Der unermüdliche Vorkämpfer einer Selbsthilfegruppe mag seine Ernennung zum Ehrenbürger erwarten und der Schützenverein strebt den Pokal zur Zierde des Vereinslokals an. Erfüllte Reziprozitätserwartungen angesichts solcher Vorleistungen sind emotional befriedigend und es mag sein, dass von ihnen in einer salutogenetischen Perspektive, ceteris paribus, gesundheitsfördernde Wirkungen ausgehen.

Umgekehrt gilt: Wenn die Frucht jahrelanger Bemühungen zerstört wird, wenn Versprechen gebrochen werden, wenn Einzelne mitten in einer gemeinschaftlichen Unternehmung abspringen und diese dadurch gefährden - überall dort entstehen Gratifikationskrisen, d. h. emotional negative Reaktionen auf verletzte Normen sozialer Reziprozität. Häufen sich solche negativen Erfahrungen in einer Gemeinschaft, dann schwächen sie das soziale Kapital. Es ist gut vorstellbar, dass eine Verschärfung des wirtschaftlichen Wettbewerbs oder die Ausbreitung von direkter Gewalt in öffentlichen Räumen zu dieser Schwächung substanziell beitragen.

Um im Beispiel zu bleiben: die jugendliche Gang, die über Nacht den Spielplatz des Elternvereins zerstört; die Wirtschaftslobby, die im letzten Augenblick den Bau der Schnellstraße durchdrückt; der Selbsthilfegruppenpionier, der einer Intrige zum Opfer fällt, oder der Schützenverein, dessen beste Mitglieder vor dem Wettbewerb abspringen, weil der drohende Verlust des Arbeitsplatzes keine Freizeitaktivitäten mehr erlaubt. Die Liste solcher Beispiele ließe sich beliebig fortsetzen. „Disinvestment in social capital” bedeutet in dieser Perspektive, dass die an gesellschaftliche Aktivitäten gerichteten Gewinnerwartungen unter solchen Bedingungen immer dünner, unrealistischer werden und letztlich zum Rückzug, zur Vereinsamung führen. Robert Putnam hat hierfür das einprägsame Bild des einsamen Keglers, des „bowling alone”, gefunden [12].

Gesundheitlich negative Auswirkungen verletzter sozialer Reziprozitätsnormen hat unsere Arbeitsgruppe seit Jahren an einer zentralen sozialen Rolle des Erwachsenenalters, der Erwerbsrolle, untersucht. Zwar unterscheidet sich diese Rolle von den oben erwähnten zivilen Rollen durch ihren expliziten Vertragscharakter und damit den hohen Verbindlichkeitsgrad von Lohn- und Leistungsrelationen. Aber selbst in dieser vertraglich geregelten Beziehung werden Reziprozitätsnormen häufig verletzt und eben diese Auswirkungen auf Befinden, Emotionen und Verhalten der Betroffenen bilden das Thema unserer Forschung [13] [14] [15].

Das Modell beruflicher Gratifikationskrisen besagt, dass unter drei Bedingungen ein Ungleichgewicht zwischen Leistung, also Investitionen in die tägliche Erwerbsarbeit, und Belohnung in Form von Geld, Anerkennung und berufliche Aufstiegschancen sowie Arbeitsplatzsicherheit erfahren wird: erstens überall dort, wo der Arbeitende keine Alternative zu einem vergleichsweise prekären Arbeitsplatz hat, z. B. bei geringer Qualifikation, bei Zugehörigkeit zu einer Branche ohne Konjunktur oder Zukunft, bei höherem Erwerbsalter. Hohe Kosten bei niedrigem Gewinn werden zweitens aus strategischen Gründen in Kauf genommen, allerdings in der Regel nur für eine begrenzte Zeit: Man investiert einige Jahre viel Arbeit bei niedrigem Gehalt, weil man sich für den in Aussicht gestellten Karrieresprung gute Chancen ausrechnet. Drittens schließlich kann eine ungünstige Kosten-Nutzen-Relation im Erwerbsleben durch bestimmte Erwartungsmuster der Person zustande kommen, Erwartungsmuster, die durch eine unrealistische Einschätzung von Anforderung und Belohnung gekennzeichnet sind. Mit dem Konstrukt übersteigerter beruflicher Verausgabungsneigung haben wir ein solches psychologisches Bewältigungsmuster beschrieben und dessen psychodynamischen Hintergrund charakterisiert.

Berufliche Gratifikationskrisen werden entweder in Form bilanzierender kritischer Lebensereignisse erfahren - als misslungener Aufstieg, als erzwungener Abstieg, als Arbeitsplatzverlust oder aber, häufiger, in Form chronifizierter Gefühle von Enttäuschung und Verärgerung, von Unzufriedenheit infolge ausbleibender Anerkennung, von Benachteiligungsgefühlen als Folge ungünstiger sozialer Vergleichsprozesse.

In drei prospektiven epidemiologischen Studien und mehreren Querschnittstudien ist gezeigt worden, dass ausgeprägte berufliche Gratifikationskrisen das kardiovaskuläre Risiko in etwa verdoppeln, vor allem bei Männern im mittleren Alter [14] [15]. Neueren Datums sind Ergebnisse aus Bevölkerungsstudien, die in zentral- und osteuropäischen Ländern und in Großbritannien zum Zusammenhang zwischen beruflichen Gratifikationskrisen und weiteren Gesundheitsindikatoren durchgeführt worden sind und über die ich hier kurz berichten möchte.

Hynek Pikhart und eine von Michael Marmot geleitete Forschergruppe in London haben bei knapp 4000 Erwerbstätigen in Polen, Ungarn, Tschechien und Litauen nach Prädiktoren eines ungünstigen subjektiven Gesundheitszustandes gesucht [16]. Neben den bekannten Faktoren „materielle Armut”, „niedrige Bildung” und „geringer Grad wahrgenommener Kontrolle über die Dinge des Lebens” erwies sich der Quotient aus Verausgabung und Belohnung am Arbeitsplatz als der stärkste Prädiktor. Zu einem ähnlichen Ergebnis gelangten Stephen Stansfeld u. Mitarb. bei entsprechenden Analysen der bekannten Whitehall-II-Studie: Alle drei Indikatoren eines weit verbreiteten Messverfahrens subjektiver Gesundheit (SF-36) wurden durch die Diskrepanz zwischen beruflicher Verausgabung und Belohnung prospektiv ungünstig beeinflusst [17]. Ähnliches ließ sich auch für ungenügenden sozialen Rückhalt und „job strain”, das heißt die Exposition gegenüber einem Arbeitsplatz mit hohen Anforderungen und geringem Kontrollspielraum, zeigen [18].

Von besonderer Aktualität erscheinen mir Befunde aus derselben Studie, die einen ausgeprägten Zusammenhang zwischen beruflichen Gratifikationskrisen und Alkoholabhängigkeit aufweisen. Das relative Risiko, alkoholabhängig zu sein, war bei Vorliegen beruflicher Gratifikationskrisen um 93 % gegenüber denjenigen erhöht, die beruflich nicht belastet waren [18]. Von gesundheitspolitischer Bedeutung könnte dieser Befund dann sein, wenn er sich in zentral- und osteuropäischen Ländern replizieren ließe.

Bedenkt man, dass ein substanzieller Teil der Exzessmortalität in Osteuropa und Russland dem hohen Alkoholkonsum zugeschrieben wird, und bedenkt man die dort massenhaft erfahrenen beruflichen und sozialen Belohnungsdefizite der erwerbsfähigen Bevölkerung in der tief greifenden politisch-ökonomischen Umbruchphase, so wird die Public-Health-Dimension des hier vorgestellten medizinsoziologischen Untersuchungsansatzes sichtbar [15].

Unsere Arbeitsgruppe hat vor kurzem begonnen, das Modell nicht reziproker sozialer Austauschbeziehungen über die Berufsrolle hinaus auf andere zentrale Rollen des Erwachsenenalters zu übertragen, ohne dies allerdings mit dem Anspruch zu verbinden, eine alternative Operationalisierung zur Erfassung von sozialem Kapital vorlegen zu können. Das Ziel meines heutigen Beitrags war ein anderes: Es sollte gezeigt werden, dass es sich lohnt, erklärungsträchtige Konzepte sorgfältig zu prüfen, sie nach Möglichkeit theoretisch zu verankern und empirisch, getreu den Grundsätzen des methodologischen Individualismus, auf Individualdatenebene zu überprüfen. Ich bin überzeugt, dass sich eine zwar mühsame, langwierige, an kumulativem Erkenntnisgewinn orientierte Forschungsarbeit letztlich auszahlen wird und den in unseren Disziplinen leider so beliebten „Schnellschüssen” überlegen ist, die einer genaueren Überprüfung kaum standhalten dürften.

Zweifellos haben die zu Beginn erwähnten Aufsehen erregenden Arbeiten zum Zusammenhang von sozialem Kapital und Gesundheit der gegenwärtigen sozialepidemiologisch-medizinsoziologischen Forschung fruchtbare Anstöße gegeben.

Mit ihnen ist ein bisher eher peripheres, auf sozialepidemiologische Expertenzirkel begrenztes Erkenntnisinteresse ins Zentrum einer breiten wissenschaftlichen und gesundheitspolitischen Öffentlichkeit gerückt. So hat beispielsweise die OECD in ihrem neuesten Bericht „The Wellbeing of Nations: The Role of Human and Social Capital” dem Thema breiten Raum gewidmet. Das ist einerseits erfreulich. Andererseits muss angesichts der aufgezeigten Probleme vor vorschnellen Vereinfachungen gewarnt werden. Sie könnten dazu beitragen, dass der Kredit einer viel versprechenden jungen Forschungsrichtung rasch verspielt wird. Schließlich darf eine ideologiekritische Analyse der Popularität einer ausgerechnet psychologischen Ausdeutung des Konzepts sozialen Kapitals in der neueren sozialepidemiologischen Forschung, wie sie von Kawachi, Wilkinson u. a. betrieben wird, nicht ausbleiben. Carles Muntaner und Kollegen haben jüngst eine solche Analyse vorgelegt und argumentiert, dass die Attraktivität von Putnams zivilgesellschaftlicher Konzeption von sozialem Kapital eng mit der politischen Ideologie des Kommunitarianismus in den USA und des sog. dritten Weges der europäischen Sozialdemokratie verbunden ist [10]. Eine Überbewertung von zivilem Engagement ebnet, so die Kritiker, den Weg zu einem Rückzug des Staates aus öffentlicher Dienstleistung und sozialer Sicherung. Und eine Fixierung des analytischen Rahmens auf die kommunale Ebene lenkt den Blick ab von den treibenden ökonomischen Kräften, die im Zug der Globalisierung zunehmend Gewinne in die private und Kosten in die öffentliche Hand fließen lassen.

Das Thema „soziales Kapital und Gesundheit” ist nicht nur wissenschaftlich aktuell und kontrovers, sondern es verweist auch auf das politische Spannungsfeld, in welchem Forschung sich ereignet. Es erinnert uns an die politische Verantwortung, der wir uns als Forscher zu stellen haben, eine Verantwortung, der zu seiner Zeit Salomon Neumann auf vorbildliche Weise nachgekommen ist.

Literatur

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  • 11 Judge K. Income distribution and life expectancy: a critical appraisal.  British Medical Journal. 1995;  311 1282-1285
  • 12 Putnam R. Bowling Alone. New York; Simon and Schuster 2000
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  • 15 Siegrist J. Place, social exchange and health: proposed sociological framework.  Social Science and Medicine. 2000;  51 1283-1293
  • 16 Pikhart H, Bobak M, Siegrist J, Pajak A, Rywik S, Kyshegyi J, Gostautas A, Skodova Z, Marmot M. Psychosocial work characteristics and self-rated health in four post-communist countries.  Journal of Epidemiology and Communiy Health. 2001;  55 624-630
  • 17 Stansfeld S A, Bosma H, Hemingway H, Marmot M. Psychosocial work characteristics and social support as predictors of SF-36 Health Functioning: the Whitehall-II-Study.  Psychosomatic Medicine. 1998;  60 247-255
  • 18 Stansfeld S A. Work-related factors and ill health. The Whitehall II Study. HSE Health & Safety Executive, Contract research report London; 2000

Univ.-Prof. Dr. Johannes Siegrist

Institut für Medizinische Soziologie der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf

Postfach 10 10 07

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