PiD - Psychotherapie im Dialog 2001; 2(3): 337-338
DOI: 10.1055/s-2001-17167
Aus der Praxis
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Die Lust an der Liebe - Leidenschaft
als Lebensform ...

Sam  Keen
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Publikationsdatum:
14. September 2001 (online)

Gesetzlose Sexualität:
Das Ende des Kampfs
zwischen den
Geschlechtern

Metanoia signalisiert auch das Ende des Kampfs zwischen den Geschlechtern. Ist die Identität nicht länger um das Bedürfnis zentriert, einen äußeren Aggressor zu bekämpfen, dann muss sich der Mann nicht mehr primär als ein Krieger verstehen. Hören Kampf, Konkurrenz, Eroberung und Machtstreben auf, die Metaphern der Organisation zu sein, dann verändert sich die Beziehung zwischen den Geschlechtern radikal. Das könnte das Ende der Missionarsstellung bedeuten, des Sadomasochismus, der Kunst, dem anderen immer voraus zu sein, und jedes Spiels, in dem es einen Verlierer geben muss.

Genau wie das Bewusstsein des Gesetzlosen den Feind entmythologisiert, so entmythologisiert es auch die Rhetorik der Geschlechter. Ich muss mich dem anderen Geschlecht mit einer neuen Unschuld, im Bewusstsein meines Unwissens, in einem Akt der geschlechtlichen Reue nähern. Mann und Frau haben ihr Bild voneinander im Spiegel ihrer Ängste und Bedürfnisse geschaffen; wir haben einander in Rollen eingesperrt, solange wir den anderen nur als Stereotyp kennen. Das Ergebnis dieser wechselseitigen Verschwörung besteht darin, dass wir nicht wissen, wie viel von unseren Geschlechtsunterschieden biologisch und wie viel die Folge von Verhaltenskonditionierung ist. In der sexuellen Reue sehen wir deutlich die verzerrten Gesichter, die wir einander aufgemalt haben. Wir können uns noch nicht unsere ursprüngliche sexuelle Natur, unsere angeborene Sinnlichkeit vorstellen.

Die Sexualität des Gesetzlosen beruht auf dem selben Prinzip wie der Rest seines Bewusstseins - auf der Suche nach Autonomie. Wenn ich die Bürde ablege, ein Supermann zu sein, bin ich nicht von Anfang an sicher, was ich wirklich will. Was begehre ich? Was ist das Gesetz meiner eigenen Sexualität? Für die meisten Menschen gehört zur Phase des Gesetzlosen eine Zeit des Experimentierens jenseits der Grenzen normaler Sexualität - Durchbrechen des Tabus. Für einige bedeutet das Homosexualität oder Ehebruch; für andere die Urnkehrung der normalen Rollen. Männer müssen das Zärtlichkeitstabu durchbrechen und die Tugenden der Sanftheit erlernen, zum Liebesspiel braucht es nicht unbedingt einen „Harten”. Frauen müssen lernen, nicht mehr Opfer und Steckdosen zu sein, sie müssen sich in den Tugenden und Vergnügungen der Bestimmtheit, Schärfe und Aggression üben. In einer sexbesessenen Kultur sind unsere Bedürfnisse so stark sexualisiert worden, dass für uns gewöhnlich eine Zeit freiwilliger Enthaltsamkeit erforderlich ist, um herauszufinden, welche Leidenschaften wir haben, die nicht mit Sexualität zusammenhängen.

Allen Liebenden stößt einmal das Schlimmste zu: Er sagt „ja”, und sie sagt „ja”, aber es sagt „nein”. Er befiehlt ihm, stramm zu stehen, aber es rührt sich nichts. Sie fleht die Säfte an, doch zu fließen, aber sie bleiben eingefroren. Er ist impotent. Sie ist frigide. Der Schlüssel ist verbogen. Das Schloss ist verstopft. Die Tore des Paradieses sind fest verschlossen.

Es ist für beide die Hölle. Sie sind vom höchsten Gut abgeschnitten, aus dem Reich der Lust verbannt. Das ist besonders schlimm, weil wir dauernd zu hören bekommen, dass überall sexuell befreite Paare multiple Orgasmen genießen.

Er ist entmannt. Sein Ich ist schlaff. Er zweifelt an seiner Männlichkeit, oder er vermutet, dass sie nicht reizvoll genug ist, um ihn anzutörnen. Er strengt sich noch mehr an, um festzustellen, dass es noch schlaffer wird. Seine Furcht wird zur Panik. Er rennt zu anderen Frauen, um sich zu vergewissern, ob es überhaupt geht, oder er meidet Frauen, oder er nimmt Vitamin E und fängt an zu joggen.

Sie zweifelt an ihrer Weiblichkeit. Sie kann etwas vortäuschen, aber dabei bleibt sie eine ungerührte Beobachterin bei einer schmerzhaften Scharade. Sie wirft ihm vor, nicht genügend auf ihre Bedürfnisse einzugehen und vermutet, dass er zu chauvinistisch ist, um sie zu verstehen. Sie meidet Männer oder hält nach dem Prinzen Ausschau, dessen Zauberstab sie in eine erotische Prinzessin verwandeln wird.

Wenn sie verheiratet sind, halten sie ihre Scham aus und reduzieren ihre Erwartungen. Schließlich ist Sex ja auch nicht so wichtig, oder? Oder sie streiten sich darüber, wessen Schuld es ist. Oder sie lesen Bücher, die erklären, wie lustvoll und natürlich es ist und die sie ermutigen, die Missionarsstellung aufzugeben. Oder sie machen eine Therapie und reden, reden, reden über das, was nicht passiert. Und wo die weißbekittelten Doktores Masters und Johnson sie von ihrer sexuellen Dysfunktion heilen.

Halt!

Was, wenn wir die Perspektive wechselten?

Was, wenn wir mit der wilden Hypothese spielten, dass Impotenz und Frigidität nicht Dysfunktionen sind, sondern Geschehnisse sind, die zelebriert werden müssen?

Was, wenn die Impotenz nicht ein Fehlen von Kraft, sondern eine verschlüsselte Mitteilung ist, die entziffert werden muss?

Was, wenn Frigidität nicht eine Schande ist, die man ertragen muss, sondern das Anzeichen einer auftauchenden Leidenschaft?

Was, wenn jeder authentische Liebhaber das Schattental der Impotenz durchqueren oder eine Zeit in der Frigidität verbringen muss?

Was, wenn die Genitalien, wie das Herz, eine Weisheit haben, die tiefer ist als die des Geistes?

Was, wenn Frauen, die niemals frigide waren, impotent sind; und wenn Männer, die niemals impotent waren, eiskalt sind?

Worte geben uns oft den Ariadnefaden in die Hand, der aus dem Irrgarten hinausführt. Impotent: Mangel an Kraft, Stärke oder Autorität. Die männliche Krise ist ein Versagen der Kraft, eine Energiekrise. Ein Mann kann normalerweise kalt und berechnend sein, aber niemand wird seine Männlichkeit in Frage stellen, solange er sein entscheidendes Charakteristikum behält - Macht. Ein Mann ist ein Mann, solange seine Knarre geladen und sein Instrument scharf ist. Frigide: Sehr kalt, deutliches Fehlen von Wärme oder Glut. Die weibliche Krise ist eine Temperaturinversion, eine unerwartete Kältefront in einem normalerweise warmen Gebiet. Eine Frau ist warmblütig. Sie kann dumm, abhängig und machtlos sein, aber ihre Weiblichkeit wird nicht in Frage gestellt, solange sie ihre Wärme behält. Will sie kühl und scharf sein, dann wird man sie loben, weil sie denkt wie ein Mann, und verfluchen, weil sie droht zu kastrieren.

Die gegenwärtige Epidemie von Impotenz und Frigidität spiegelt eine Veränderung in der Gesellschaft, eine Revolution im Selbstverständnis wider. Die Stereotypen brechen zusammen. Einige sehr männliche Männer halten sich aus dem Machtspiel heraus und weigern sich, Krieger zu sein. Diejenigen, die sicher genug sind, um weich sein zu können, haben erkannt, dass es ein Widerspruch ist, etwas mit Herz zu wollen und Macht zu akkumulieren - atomar oder persönlich. Einige sehr weibliche Frauen erlernen das Vergnügen des Selbstbewusstseins und entdecken, dass Macht ein Aphrodisiakum sein kann. Die Genitalien sind die Avantgarde unserer veränderten Männer- und Frauenbilder. Sie befinden sich in offener Rebellion gegen die alte Tyrannei. Keine Ausbeutung mehr! Der Kopf befiehlt den Genitalien zu funktionieren. Sie weigern sich. Wenn man eine Erektion anordnet und sie kommt nicht, hat man eine Insurrektion. Einige Generale und Kopfmenschen reagieren mit dem Versuch, Gesetz und Ordnung durchzusetzen: Sie setzen Willenskraft und Feuerkraft ein, um die Rebellen zum Gehorsam zu zwingen. Aber das tyrannische Bemühen führt vielleicht zu einem Bürgerkrieg im großen Stil. Die einzige Form, innerhalb der Gesellschaft (und der Psyche) wieder Frieden herzustellen, besteht darin, die Forderungen der Rebellen zu respektieren. Zuhören, Verhandeln, Verändern. Gerechtigkeit bedeutet, dass jede Stimme zu Wort kommen darf.

Könnte ein Mann auf alle Stimmen in seinem Inneren hören und die Vielfalt seiner Gefühle anerkennen, dann wäre es ihm möglich, klar über seine Ambivalenz zu sprechen. Dann müsste sein Penis nicht die Rolle des Sprachlosen spielen. Was versucht der sprachgestörte Mann durch die Geste der Impotenz zu sagen? Die Mitteilung ist immer gemischt. Sie kann lauten:

Nein.

Nicht jetzt.

Ich empfinde keine Begierde.

Ich will nicht intim mit dir zusammen sein.

Ich kenne dich noch nicht gut genug.

Ich fürchte, du wirst mich verschlingen, alle meine Zeit, Energie, Freiheit in Anspruch nehmen.

Ich fürchte, ich bin als Liebhaber nicht gut genug, um dich zu befriedigen.

Ich habe Angst vor den Folgen.

Ich habe Angst, die Beherrschung zu verlieren.

Ich bin sauer.

Ich gönne dir keine Lust.

Ich will dich bestrafen, weil du mich betrügst, missachtest, benutzt, nicht ernst nimmst.

Ich traue dir nicht.

Ich ziehe mich vor dir zurück.

Ich nehme dir deine Forderungen übel.

Ich habe es satt, so zu tun, als sei ich immer kräftig und beherrscht. Manchmal bin ich klein und verängstigt und will getröstet werden.

Ich will überhaupt nichts tun.

Ich will, dass du aktiv wirst!

Ich hab’ es einfach satt.

Ich will erst dann mit dir schlafen, wenn ich Vertrauen, Zärtlichkeit und Verlangen empfinde.

Und welche Ängste, Wünsche und unausgesprochenen Fragen sind in der Frigidität verschlüsselt? Wenn die Säfte nicht fließen und bei einer Frau keine Leidenschaft aufkommt, welche Botschaft drückt ihr Körper dann durch seine Weigerung aus? Es kann jede der unausgesprochenen Ängste und Hoffnungen sein, die auch der männlichen Impotenz zugrundeliegen. Aber die Stimme der Frau hat ihren eigenen Akzent. Ihre Geste kann auch bedeuten:

Ich bin nicht erregt.

Ich empfinde weder Begierde noch Liebe.

Ich will nicht so verletzbar sein.

Ich habe es satt, als Objekt - Stück, Kätzchen, Möse, Weib, Ding - behandelt zu werden.

Wenn du meinen Geist und mein Herz nicht gewinnen willst, dann kannst du auch nicht in meinen Körper eindringen.

Ich bin noch nicht so weit; lass uns mehr Zeit; streichle mich.

Ich will jetzt allein und für mich sein; unabhängig.

Ich habe die Freiheit, mich zu öffnen und zu verschließen.

Ich will nicht passiv sein; ich will auf dich, aber meine Aggression ängstigt dich.

Ich fühle mich schuldig.

Ich bin in der Vergangenheit zu oft verletzt worden und fürchte mich noch immer.

Die Bilder, die wir uns machen, formen uns. Die alten lkonen zeigten Männer und Frauen als unterschiedliche Spezies. Harte Männer und weiche Frauen. Clint Eastwood und Catherine Deneuve. Der Marlboro-Mann und das Shampoo-Mädchen. Allzeit bereite Männer und willige Frauen. Jetzt taucht ein neues Bild auf, ein neues Ideal der vollständigen Person. Sie/er hat die Fähigkeit und das Bedürfnis, die Gegensätze zu vereinigen, die zuvor den getrennten Geschlechtern zugewiesen worden waren. Die neue Person ist aggressiv und zart, abenteuerlustig und hingebungsvoll.

Der Übergang von alten zu neuen Lebensweisen ist turbulent. Oft fühlen sich die Männer unmännlich, wenn sie erstmals das Machen, Tun und Beherrschen sein lassen und anfangen, warm und einladend zu empfinden. Es erscheint so passiv, zu warten und zu staunen. Frauen sind gewöhnlich unbeholfen, wenn sie erstmals versuchen, sich mit Kraft zu bewegen. Ihre Slogans zeugen noch mehr von Erwartungen als von Taten. Lange unterdrückte Wut kommt nicht freundlich hoch.

Aus der Verwirrung der Geschlechtsrollen, aus der Impotenz und Frigidität wird eine neue Person geboren. Für uns ist es jetzt an der Zeit, auf unsere tiefsten Begierden zu lauschen und voneinander zu lernen. Zeit für einen neuen Dialog zwischen Macht und Liebe, zwischen den harten und den weichen Formen des In-der-Welt-Seins.

Durch Entmythologisierung unserer sexuellen Stereotypen und Verkündung eines Waffenstillstandes gewinnen wir die Freundschaft des anderen Geschlechts zurück. Sexuelle oder geschlechtliche Metanoia erlaubt uns, weitere 50 Prozent des Eros zurückzuerobern, den wir einbüßten, als wir bereit waren, Erwachsene zu werden. Mann und Frau, die ihre alte Feindschaft begraben, können einander schließlich Lehrer werden.

Auszug aus Keen, Sam (1984): Die Lust an der Liebe - Leidenschaft als Lebensform. Weinheim: Beltz

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