Dtsch Med Wochenschr 2001; 126(20): 579
DOI: 10.1055/s-2001-14097
Editorial
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Diabetes mellitus: Die therapeutische Herausforderung des 21. Jahrhunderts

Diabetes mellitus: therapeutic challenge of the 21st century
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Publication Date:
31 December 2001 (online)

Prof. Dr. med. Dr. rer. nat. H.-G. Joost, Aachen, Herausgeber

Als Banting und Best im Jahr 1922 erstmals die Herstellung einer therapeutisch anwendbaren Insulinpräparation beschrieben, schien diese Entdeckung den Diabetikern eine normale Lebenserwartung zu sichern. Erst viele Jahre später wurde erkannt, dass Diabetes mellitus für lebensverkürzende und die Lebensqualität erheblich beeinträchtigende Sekundärkomplikationen verantwortlich ist. Heute wissen wir, dass eine gute Stoffwechseleinstellung die Entwicklung mikro- und makrovaskulärer Komplikationen hemmt, und streben deshalb normnahe Blutzucker- und HbA1c-Werte an. Leider ist die Größe des therapeutischen Effekts - vor allem die Reduktion der kardiovaskulären Mortalität bei Typ-2-Diabetes - noch unbefriedigend, was sicher auch daran liegt, dass das Therapieziel Normoglykämie trotz intensiver Therapie nur schwer zu erreichen ist. Dies wirft die berechtigte Frage auf, ob der therapeutische Gewinn einer intensivierten, auf Normoglykämie zielenden Therapie bei jedem Typ-2-Diabetiker die Nachteile (und die potenziellen Risiken) dieser Therapie aufwiegt. Vor diesem Hintergrund stehen auf der diesjährigen Jahrestagung der Deutschen Diabetes-Gesellschaft die verschiedenen Therapieschemata sowie relativ neue Pharmaka (z. B. Insulinanaloga, Glitazone) auf dem Prüfstand. Das Themen-Schwerpunktheft der Deutschen Medizinischen Wochenschrift soll mit mehreren Beiträgen zu dieser Diskussion beitragen.

Thiazolidindion-Derivate (kurz Glitazone genannt, z. B. Rosiglitazon und Pioglitazon) sind Agonisten des PPARγ-Rezeptors. Sie bessern die Insulinresistenz bei Typ-2-Diabetes und sind eine Ergänzung zu den etablierten oralen Antidiabetika, deren Einsetzbarkeit durch Kontraindikationen (Metformin) oder unzureichende sekretorische Kapazität der β-Zelle (Sulfonylharnstoffe) limitiert ist. Leider ist die Datenlage zu den Glitazonen - was publizierte Phase-III-Studien anbetrifft - immer noch unzureichend. Auf einen möglichen Nutzen der Substanzen hinsichtlich der diabetischen Sekundärkomplikationen kann z.Zt. nur aus Surrogatparametern (Blutzucker- und HbA1c-Senkung) geschlossen werden. Schwerwiegende Komplikationen (Leberversagen) scheinen nach Pioglitazon und Rosiglitazon nicht aufzutreten oder sehr selten zu sein, aber auch leichtere Komplikationen (z. B. Ödembildung, Gewichtszunahme) müssen in Mechanismus, Häufigkeit und Konsequenz noch weiter geklärt werden. So kommen sowohl der Pro- als auch der Kontra-Beitrag zu der Schlussfolgerung, dass das Verhältnis zwischen Nutzen (Reduktion der Diabetes-assoziierten Sekundärkomplikationen) und Risiken (z. B. Gewichtszunahme, Ödembildung) noch nicht abschließend beurteilt werden kann (was für eine neue Wirkstoffgruppe nicht ungewöhnlich ist). In pointierter Formulierung meint der Kontra-Beitrag allerdings, dass die breite Anwendung der Glitazone »einem Großexperiment am Patienten und der Gesundheitsökonomie« gleichkomme. Hierzu ist anzumerken, dass die frühe und breite Ein- und Umstellung von Typ-2-Diabetikern auf Insulin - wie sie von einer deutschen Schule, die die oralen Antidiabetika sehr kritisch sieht, propagiert wurde - auch ein therapeutisches und ökonomisches Großexperiment ist, das durch die Datenlage nicht sicher gedeckt ist! Ich meine, dass wir die noch fehlenden Daten zu den Glitazonen einfordern müssen, dass aber ihr sorgfältig abgewogener Einsatz bei einem Teil der Patienten schon jetzt gerechtfertigt ist, wenn man die Nachteile der Alternative (Umstellung auf Insulin oder schlechtere Einstellung mit den konventionellen Substanzen) berücksichtigt.

Die Übersichtsarbeit von Heinemann und Heise fasst die derzeitige Datenlage zu den Insulinanaloga in umfassender, sehr ausgewogener Form zusammen. Auch diese Substanzgruppe ist umstritten, wobei die Diskussion leider nicht nur durch ernsthafte Fragen nach der Nutzen-Risiko-Relation, sondern auch durch ideologische Vorbehalte gegen gentechnisch produzierte Insuline bestimmt zu sein scheint (Stichwort »Kunstinsuline«). Ungerechtfertigt und durch die Datenlage nicht gedeckt erscheint mir die Vermutung, Insulinanaloga (früher Insulin lispro und seit kurzem Insulin glargin) könnten »Krebs« auslösen. Gerechtfertigt sind aber Fragen nach der Größe des Nutzens (nicht nur die bessere Stoffwechseleinstellung, auch die Verbesserung der Lebensqualität ist ein Nutzen!) sowie Fragen nach der Sicherheit bez. der Retinopathie und bei Schwangerschaft. Es erscheint mir auch unvermeidbar, dass gesundheitsökonomische Argumente in die Diskussion eingehen, da Insulinanaloga die Therapiekosten erheblich erhöhen können. Zur aktuellen Diskussion der Kosten des Diabetes mellitus in Deutschland soll schließlich die sehr wichtige Originalarbeit von Liebl et al. über die CODE-2®-Studie beitragen.

Die stetige Beschleunigung des wissenschaftlichen Erkenntnisgewinns ist auch und besonders in der Diabetologie zu spüren. So brachten die letzten Jahre erhebliche Fortschritte unserer Kenntnisse der molekularen Grundlagen sowohl des Typ-1- als auch des Typ-2-Diabetes mellitus. Ich erwarte, dass die Aufklärung der molekularen Ursachen dieser komplexen Erkrankungen in den nächsten Jahren entscheidend vorangehen und Auswirkungen auf die Praxis haben wird. Deshalb ist in einer aktuellen Übersicht der Stand unseres Wissens zu Prädiktion und Prävention des Typ-1-Diabetes dargestellt; eine Originalarbeit zu den Effekten eines genetischen Polymorphismus im PPARγ-Rezeptor soll Ihnen einen Einblick in die aktuelle molekulargenetische Forschung geben.

Alle Statistiken weisen aus, dass der Diabetes mellitus eine der wichtigsten therapeutischen (und gesundheitsökonomischen) Herausforderungen des 21. Jahrhunderts werden kann, die - so soll dieses besondere DMW Heft zeigen - von der deutschen Diabetologie in Forschung und Praxis angenommen wird.

Prof. Dr. med. Dr. rer. nat. H.-G. Joost

Institut für Pharmakologie und Toxikologie

Medizinische Fakultät der RWTH Aachen

Wendlingweg 2

52057 Aachen