Gesundheitswesen 2000; 62(3): 130-137
DOI: 10.1055/s-2000-10477
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Ärztliche Angst und ärztliche Eleganz. Handlungsprobleme der Kostenreduktion, der Herausbildung von Hausärzten und der optimalen Größe von Praxisnetzen im Ländervergleich

J. Behrens
  • Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Medizinische Fakultät, Institut für Gesundheits- und Pflegewissenschaft
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Publication Date:
31 December 2000 (online)

Zusammenfassung

Der wichtigste Grund für kollegiale Vernetzungen im Gesundheitswesen ist der bessere Umgang mit der Unsicherheit in Behandlungsentscheidungen. Finanzielle Gründe sind, obwohl sie insbesondere in der 2. Generation von Vernetzungen dominieren können, ambivalent. Drei Handlungsprobleme (Rollenkonflikte) die auch Einzelpraxen betreut haben, müssen Vernetzungen lösen. Lösungsstrategien und Lösungsressourcen werden in dem Vortrag ansatzweise verglichen.

Das erste Problem ist die Wahl einer Kostenreduktionsstrategie, die nicht die Wirksamkeit und Sparsamkeit der Behandlung verschlechtert. Die beiden Lösungsstrategien (Selbst-) Ausschluss „teurer” Patient/Innen und Rationierung medizinisch notwendiger Leistungen, in einer Art McDonald’s Praxisnetz, verfehlen dieses Ziel. Die Einsparung medizinisch überflüssiger, im Grenzfall schädlicher Leistungen erfüllt das Ziel am optimalsten. Welche Kostenreduktionsstrategie gewählt wurde, ist von außen prinzipiell, aber faktisch nur begrenzt erkennbar und steuerbar. Evidence based health care kann eine Ressource für Behandlungsentscheidungen sein und solche Behandlungsentscheidungen trainieren, aber sie kann sie den Praxen nicht abnehmen.

Das zweite Problem ist die Entstehung von Hausärzten. Kenntnis des Versorgungssystems macht noch keinen Hausarzt, wenn sie auch eine notwendige Bedingung ist. Auch vertragliche oder verordnete Bindungen von Versicherten an einen Arzt als Gatekeeper und Lotsen oder finanzielle Anreize machen noch keinen Hausarzt. Erst das durch zweite Meinungen und Habitus gestützte Vertrauen der Patienten macht den Hausarzt. „Ärzte-Hopping” kann als Reaktion auf die Seltenheit von Hausärzten verstanden werden.

Drittes Problem ist die Wahl der richtigen Größe von Vernetzungen, weil die Erfordernisse der Risikostreuung, des motivierten Engagements, der Anreize durch Wettbewerb, der Inklusion der Versicherten jeweils andere optimale Netzgrößen verlangen. Hier sind aber für jedes Erfordernis unterschiedliche Vernetzungen möglich, eine Praxis kann Mitglied in verschiedenen Netzen unterschiedlicher Ebenen sein.

Der Übergang von kleinen Eigentümer-Betrieben zu Vernetzungen und zu größeren Betrieben ist in allen Branchen ein Kulturschock und nicht nur mit Nutzen, sondern auch mit sozialen und psychischen Kosten verbunden. Hier unterscheidet sich das Gesundheitswesen nicht von der Landwirtschaft und anderen Branchen. Das Schicksal der Gemeinschaftspraxen in Deutschland deutet darauf hin, dass es starke auseinander treibende soziokulturelle Kräfte geben muss. Die vergleichende Analyse der Konflikte, Belastungen, Ressourcen und Bewältigungsstrategien, die Therapeuten zu Vernetzungen veranlassen und die sie bei diesen Vernetzungen haben, kann auf ein seit Jahrzehnten entwickeltes und weiter zu entwickelndes methodisches Arsenal in der Soziologie und Sozialpsychologie zurückgreifen (vgl. Meyer [2] in diesem Heft). Dabei sind auch Handlungsprobleme einzubeziehen, die nur am Rande des jeweiligen beruflichen Horizonts aufscheinen.

Doctor’s fair and doctor’s elegance. Paths of cost reduction, doctor’s as gatekeepers and the sociology of scale in multinational comparision

The key reason for physicians networking in managed care is to get a better coping with uncertainty on action (treatment) decisions. The second reason for networking in managed care are financial benefits grounds. But this reason is very ambivalent.

Three different action problems (role conflicts) in managed care network are to solved, which was also in single practices. In the lecture the decision strategies and decision ressources has been compared. Observations are done using expert interviews, patient interviews and analysis of documents in USA, Germany and Switzerland.

The first problem is the choosing of a cost reduction strategy which is not reducing the effectiveness. Such „ugly” solution strategies like exclusion of „expensive” patients and a rationing of necessary medical services in a kind of McDonalds network of physicians will faile the target. The optimost way is a saving of all unnecessary medical even injourious performances. The choosed cost reduction strategy is not real visible from outside but in fact limited cognizable and controlable. Evidence based health care can be a ressource of treatment decisions and could train such decisions but it will not substitute these decisions.

The second problem is the making of real familiy practitioners as gatekeepers. Knowledge about the care system is still not making a real family practitioner, even if this is the minimum condition of their work. Also contractual relationships between insurance and doctor as a gatekeeper or financial incentives for patients are still making not a real family practitioner as a gatekeeper. Only throughout the trust of patients supported by second oppinions is making the real family practitioner as a gatekeeper.

„Doctor hopping” could be the reaction by scarcity of trustworth family practitioners as gatekeepers.

The third problem is the choosing of the optimal scale of a network due to the very different optimal size of networks regarding the requirement of risk spreeds, of the motivated engagement, of competition, incentives of inclusion of insurantes, they always need other net sizes. But it is possible, for each requirement there could function different networks. A practice (doctor’s office) can be a member in different networks in several levels.

The social transition from a small office to a network of offices is in all business lines a cultural shock involving not only benefits also psychical and social distress. In this there is no difference between health or agriculture or each other business of trade and industry. The destiny of the joint doctor’s offices in Germany suggest due to a very serious power to scatter this networks. The comparative analysis of conflicts, straines, ressources and strategies of associations and networks could yield from a developed methodical repository in sociology and social psychology what exists since 40 years (see also Meyer - in this journal). But therefore must be included also the action problems, which are only mentioned in passing of the according profession horizon.

Literatur

  • 1 Behrens J, Braun B, Morone J, Stone D. Gesundheitssystementwicklung in den USA und Deutschland - Wettbewerb und Markt als Ordnungselemente im Gesundheitswesen auf dem Prüfstand des Systemvergleichs. Baden-Baden; Nomos 1996: 197-214
  • 2 Meyer P C, Denz M D. Sozialer Wandel der Arztrolle und der Ärzteschaft durch Managed Care in der Schweiz.  Gesundheitswesen. 2000;  62 138-142
  • 3 Schlesinger M. Wahlfreiheit, gesteuerte Versorgung und gesteuerter Wettbewerb: Interaktionen und Extrapolationen. In: Behrens u. a Gesundheitssystementwicklung in den USA und Deutschland - Wettbewerb und Markt als Ordnungselemente im Gesundheitswesen auf dem Prüfstand des Systemvergleichs Baden-Baden; Nomos 1. Aufl. 1996
  • 4 Stone D. Das strategische Verhalten der Versicherer unter der Marktreform. In: Behrens u. a Gesundheitssystementwicklung in den USA und Deutschland - Wettbewerb und Markt als Ordnungselemente im Gesundheitswesen auf dem Prüfstand des Systemvergleichs Baden-Baden; Nomos 1. Aufl. 1996
  • 5 Morone J A. Politik, Märkte und Gesundheitsreform: Amerikanische Gesundheitsvorsorge für Deutschland?. In: Behrens J, Braun B, Morone J, Stone D Gesundheitssystementwicklung in den USA und Deutschland - Wettbewerb und Markt als Ordnungselemente im Gesundheitswesen auf dem Prüfstand des Systemvergleichs Baden-Baden; Nomos 1996
  • 6 Raetzo M A. Weiterbildung, Antrieb zur Kostendämpfung, ein schweizerisches Experiment.  Gesundheitswesen. 2000;  62 143-147
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  • 8 Behrens J. Schichtungsstruktur und Wettbewerb im System der Gesetzlichen Krankenversicherung.  Zeitschrift für Sozialreform. 1989;  11/12 712-718
  • 9 Wennberg J. Sounding Board: Outcomes Research, Cost Containment and the Fear of Rationing.  New England Journal of Medicine. 1992;  323 17 102-104
  • 10 Behrens J. Die Freiheit der Wahl und die Sicherung der Qualität. In: Behrens J, Braun B, Morone J, Stone D Gesundheitssystementwicklung in den USA und Deutschland - Wettbewerb und Markt als Ordnungselemente im Gesundheitswesen auf dem Prüfstand des Systemvergleichs Baden-Baden; Nomos 1996: 197-214
  • 11 Behrens J. Anvertraute Unversehrtheit. Public Health als Beruf. Ms Bremen; DFG-Sfb 186 1994b
  • 12 Neubauer G. Staatlicher Interventionismus versus wettbewerbliche Selbststeuerung. Ein neuer Ansatz zur Steuerung der Gesundheitsversorgung in Deutschland. In: Behrens u. a Gesundheitssystementwicklung in den USA und Deutschland - Wettbewerb und Markt als Ordnungselemente im Gesundheitswesen auf dem Prüfstand des Systemvergleichs Baden-Baden; Nomos 1. Aufl. 1996
  • 13 Behrens J. Gnade, bürgerliche Autonomie, Krankheit. Staatliche Sozialpolitik und betriebliche Sozialverfassung.  Zeitschrift für Sozialreform. 1990;  11/12 803-827
  • 14 Behrens J. Der Prozeß der Invalidisierung - das demographische Ende eines historischen Bündnisses. In: Behrend C 1994: 105-135

Fußnoten

1 Dieser Vortrag basiert z. T. auf Behrens u. a. 1996 1. Die Thesen sind auf der Jahrestagung der Sektion Medizinsoziologie der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, die diese zusammen mit der schweizerischen Schwestersektion im Rahmen des Internationalen Public-Health-Kongresses Oktober 1999 in Freiburg durchführte, vorgetragen worden. Die Überlegungen verdanken sich ferner Diskussionen innerhalb des internationalen Netzwerkes für EBN, insbesondere Prof. Donna Ciliska und Prof. Alba Di Censo in der Mc Master University Hamilton/Ontario, vor allem aber Diskussionen mit niedergelassenen Allgemeinpraktikern (insbesondere in einem der ganz wenigen in Deutschland noch existierenden Ärztehäusern derselben allgemeinmedizinischen Fachrichtung, dem Ärztehaus Weilrod, mit der Ärztin Luise Wagner). Ihnen allen sei gedankt.

Prof. Dr. Johann Behrens

Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Medizinische Fakultät

Institut für Gesundheits- und Pflegewissenschaft

Magdeburger Straße 27

06097 Halle (Saale)

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