Gesundheitswesen 2000; 62(1): 1-3
DOI: 10.1055/s-2000-10312

© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Die Zeitschrift „Das Gesundheitswesen” und der Wandel öffentlicher Gesundheit

J. G Gostomzyk
  • Augsburg
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Publication Date:
31 December 2000 (online)

Der Zeitpunkt für das Ende des 19. Sekularjahres und den Beginn des 3. Millenniums unserer Zeitrechnung wurde durch die von Papst Gregor XIII im Jahre 1582 verordnete Kalenderreform festgelegt. Sie löste den von Julius Cäsar 46 v. Chr. eingeführten Julianischen Kalender ab, der das reine Sonnenjahr mit 365 Tagen an die Stelle des Mondjahres eingeführt hatte. Der Beginn der neuen Zeitrechnung begründet sich aus der christlichen Vorstellung eines einmaligen Erlösungsaktes, die Geschichte erscheint als linear gegliedert durch den Tod Jesu und die Erwartung der Wiederkunft Christi. Der im Gregorianischen Kalender festgelegte Zeitpunkt für den Jahreswechsel 2000 gibt Anstoss zu weltweit unzähligen Reflexionen anlässlich dieses Datums. Zumindest wird Rückschau gehalten über die eigene Lebensspanne im ausklingenden Jahrhundert, und das soll auch für unsere Zeitschrift gelten, die ja für ihr Thema ein die Zeiten begleitendes Dokument ist. Warum ist alles so und nicht anders verlaufen und was wird in Zukunft sein, als käme mit dem Jahr 2000 eine andere Zeit.

Der 1. Jahrgang unserer Zeitschrift erschien 1935/36, im Jahr des so genannten Blutschutzgesetzes („Nürnberger Gesetze” 1935) und kurze Zeit nach der ideologischen Gleichschaltung aller Kulturbereiche im Sinne des NS-Regimes durch das Reichskulturkammergesetz, unter dem Titel „Der öffentliche Gesundheitsdienst” als Zeitschrift des Reichsausschusses für Volksgesundheitsdienst e. V., der Staatsmedizinischen Akademie Berlin und der Wissenschaftlichen Gesellschaft der deutschen Ärzte des öffentlichen Gesundheitsdienstes im Georg Thieme Verlag, Leipzig. Sie war Nachfolgezeitschrift der seit 1888 in Fischers Medizinischer Buchhandlung verlegten „Zeitschrift für Medicinalbeamte” des jüdischen Verlegers Kornfeld. Diese hatte durch die 1934 erfolgte Auflösung des Deutschen Medizinalbeamtenvereins ihre Trägerschaft verloren und der Verlag ging 1935 durch Erwerb im Thieme Verlag auf. Die für die neue Zeitschrift gewählte Assoziation der Begriffe „öffentlicher Dienst” und „Gesundheit” und die Einbindung dieses öffentlichen Gesundheitsdienstes bei der Umsetzung rassenhygienischer Staatsziele belastet den Begriff „öffentliche Gesundheit” bis heute, in dem er für manche als Übersetzung von Public Health aus dem Englischen unbrauchbar erscheint.

Nach dem Zweiten Weltkrieg erschien 1949/50 der 11. Jahrgang der Zeitschrift unter dem gleichen Titel mit dem Untertitel „Monatsschrift für Gesundheitsverwaltung und Sozialhygiene” als Organ des Verbandes der Ärzte des öffentlichen Gesundheitsdienstes (ÖGD) und der Vereinigung für Gesundheitsfürsorge im Kindesalter. Nach den Wirtschaftswunderjahren der Bundesrepublik prägte das Jahr 1968 mit seinen Unruhen an den Universitäten eine ganze Studentengeneration. Auch der Titel der Zeitschrift änderte sich in diesem Jahr; sie hieß fortan „Das öffentliche Gesundheitswesen”. Zudem wurde sie Organ eines weiteren Berufsverbandes, des Bundesverbandes der Vertrauens- und Rentenversicherungsärzte.

Gesellschaftlicher Wandel, eine veränderte Auffassung emanzipierter Bürger von Staat und öffentlichem Dienst, die wachsende Befähigung der Bürger zur Wahrnehmung eigener Interessen und eine europaorientierte Politik, auch in Bezug auf die Schaffung vergleichbarer Lebensbedingungen für die Bürger der beteiligten Länder, ihre Chancen für Gesundheit und die Einbeziehung des Gesundheitsfaktors in die anderen Politikbereiche waren Ende der 80er Jahre neue Konditionen. Damit wuchs wieder das politische und zunehmend auch das wissenschaftliche Interesse an den in öffentlicher Verantwortung zu erbringenden Gesundheitsleistungen neben Fragen nach Strukturen, Ökonomie und Effizienz der in ihrem Finanzvolumen ungleich größeren individualmedizinischen Versorgung im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung. Die Notwendigkeit der Steuerung des Gesundheitswesens durch Definition gesundheitsbezogener Politikziele, durch Entwicklung von Konzeptionen und durch Begleitevaluation wurden offenkundig. Es begann die Ära der Gesundheitsreformgesetze, sie schuf 1989 u. a. die Voraussetzung für die Gründung des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherungen (MDK) und eine zeitweise Zuordnung der Gesundheitsförderung als Aufgabe der gesetzlichen Krankenkassen. Die genannten Entwicklungen und das Interesse des MDK an einer Kooperation mit der Zeitschrift waren 1992 für Redaktion und Verlag Anlass, den offeneren Titel „Das Gesundheitswesen” zu wählen. Die notwendige Eingrenzung des unter dem geänderten Namen möglichen Themenspektrums erfolgte durch die Untertitel Sozialmedizin, Gesundheits-System-Forschung, Public Health, Education, öffentlicher Gesundheitsdienst, Medizinischer Dienst, also einer Kombination aus Medizinischen Fächern und Berufsfeldern.

Titel und Organschaften der Zeitschrift geben Auskunft über die gesundheitspolitischen Rahmenbedingungen in den jeweiligen Erscheinungsjahren. Die Inhalte öffentlicher Gesundheit werden durch die Themen der Originalbeiträge deutlicher, wie eine Analyse der ausgewählten Jahrgänge 1935/36, dem Jahr des Inkrafttretens des Gesetzes über die Vereinheitlichung des Gesundheitswesens, 1949/50, dem Jahr der Gründung der Bundesrepublik, 1989 als letztem Jahr der alten Bundesrepublik und 1998, dem neunten Jahr der deutschen Einheit, zeigt. Die ausgewählten Jahre können durchaus als repräsentative Zeitfenster der historischen Entwicklung unseres Landes bezeichnet werden.

Die Mehrzahl, d. h. insgesamt über 80 % der 68 Originalarbeiten des 1. Jahrganges (1935/36) sind den Themenschwerpunkten Rassenhygiene (37 %), d. h. Erbgesundheit, Eugenik, Sterilisation u. a. sowie den Aufgaben des Amtsarztes und der neuen, in der Regel staatlichen Gesundheitsämter (19 %), dem Infektionsschutz (15 %) sowie der Jugend- und Schulgesundheit (12 %) zuzuordnen.

Das Politikziel des so genannten Tausendjährigen Reiches, die Verbesserung der Volksgesundheit durch Rassenpflege als Aufgabe öffentlicher Gesundheit, gestützt von sozialdarwinistisch orientierten Vertretern von Theorie und Praxis, verschwand 1945 mit Kriegsende. Die Erinnerung an den Rassenwahn und seine schrecklichen Folgen für viele Menschen wurde in den ersten Nachkriegsjahren zunächst verdrängt. Öffentliche Gesundheitspflege war wieder damit beauftragt, Bedürftige in ihrer Gesundheit zu beraten und zu stützen. Am 23. Mai 1949 wurde mit Genehmigung der westlichen Militärgouverneure das Bonner Grundgesetz verkündet. Am 7. Oktober 1949 trat im Gebiet der sowjetischen Besatzungszone die DDR ins Leben. Im gleichen Jahr erschien der 11. Jahrgang der Zeitschrift (1949/50) im G. Thieme Verlag, jetzt in Stuttgart. Die 47 Originalarbeiten lassen sich dem engen Themenspektrum Amtsarzt und Gesundheitsamt (32 %), Infektionsschutz (28 %) und allgemeine Hygiene (17 %) zuordnen. In Westdeutschland zeichnete sich damals bereits für den ÖGD der Aufgabenabbau und eine Aufgabenverlagerung zugunsten der niedergelassenen Ärzte ab, obwohl die Bedeutung der Prävention in den folgenden Jahren ständig wuchs, allerdings unter dem Eindruck des neuen Risikofaktorenkonzeptes zur Vermeidung chronischer Krankheiten. Der anfangs auch wegen seiner zentralen Rolle in der NS-Zeit durch Aufgaben- und Personalabbau in eine Randposition gedrängte öffentliche Gesundheitsdienst war dieser Aufgabe nicht mehr gewachsen.

Mit dem 9. November 1989 ging das letzte Jahr der alten Bundesrepublik zu Ende, kaum ein Jahr später war die Vereinigung der beiden deutschen Staaten vollbracht, allerdings mit erheblichen finanziellen Belastungen öffentlicher Haushalte, auch denen der Sozialversicherungen. 1989 erschien der sehr umfangreiche 51. Jahrgang der Zeitschrift. Von 126 Originalarbeiten befassten sich 23 % mit Infektionskrankheiten, davon mehr als die Hälfte mit HIV bzw. AIDS (13 %). Mit Abstand folgten umweltmedizinische Themen inklusive Innenraumbelastungen (14 %), weitere Arbeiten befassten sich mit Fragen des öffentlichen Gesundheitsdienstes (13 %), der Jugendgesundheitspflege (11 %) sowie der allgemeinen Hygiene (11 %). Die Ausbreitung bisher unbekannter Viren und gegen Antibiotika resistenter Mutanten pathogener Bakterien führte zu neuem sozialhygienischen Handeln jenseits der Grenzen der Individualmedizin. Die Gesundheitspolitik setzte nun im Umgang mit Infektionskrankheiten, durchaus mit Erfolg, wie die Epidemiologie der HIV-Infektionen in unserem Lande zeigt, die Priorität auf Aufklärung und Einsicht der Bürger an Stelle ordnungsrechtlicher Maßnahmen wie Meldepflicht usw. Die zeitweise sehr heftige Diskussion über Gesundheitsrisiken aus der Umwelt, zu der insbesondere die Epidemiologie zahlreiche Daten lieferte, wurde bald durch die Debatte über die Gefährdung des Wirtschaftsstandortes Deutschland einschließlich Globalisierung und Arbeitslosigkeit in den Hintergrund gedrängt.

Als derzeit letzter vollständig vorliegender Band der Zeitschrift mit dem Titel „Das Gesundheitswesen” liegt der 60. Jahrgang (1998) vor. Eine Dekade eher weniger als mehr erfolgreicher Gesundheitsreformgesetze hat zu einer Ökonomielastigkeit fast aller Diskussionen im Gesundheitswesen geführt. Das Oberziel der Gesundheitspolitik, eine Kostenbegrenzung im Gesundheitswesen bzw. eine Beitragsstabilität zur Krankenversicherung, bestimmt auch das Themenspektrum des 60. Jahrgangs. Priorität unter den 111 Originalbeiträgen haben Arbeiten über Kosten, Strukturen, Funktionen und Qualitätssicherung im Gesundheitswesen und deren Evaluation (32 %), gefolgt von Arbeiten über Krankheit und soziale Ungleichheit (13 %), Umweltmedizin (13 %), Gesundheitsförderung (12 %) und Infektionsschutz (9 %), letzteres allerdings ohne eine spezielle Arbeit zum Thema HIV.

Damit steht am Ende des Jahrhunderts, ähnlich wie im ausgehenden 19. und ersten Drittel des 20. Jahrhunderts, allerdings auf einem anderen Niveau, die gesundheitliche Versorgung der Bevölkerung einschliesslich der sozialen Frage wieder im Zentrum des Interesses derjenigen, die sich mit der Wechselwirkung zwischen Krankheit bzw. Gesundheit und Gesellschaft in Theorie, Praxis und Politik befassen. In dieser Zeit erwiesen sich auch die so genannten Zivilisationskrankheiten als Anliegen öffentlicher Gesundheitspflege in ihren Ursachen und ihrer Bewältigung als sehr zeitgebunden und in ihrer Art Wandel und Wechsel unterworfen.

Zeit ist als Übergang von der Gegenwart zur Vergangenheit und von der Zukunft zur Gegenwart die allgemeinste Form der Veränderung. „Die Zeiten der Vergangenheit sind uns ein Buch mit sieben Siegeln. Was Ihr den Geist der Zeiten heißt, das ist im Grund der Herren eigener Geist, in dem die Zeiten sich bespiegeln.” (J. W. von Goethe, Faust I). Jede Deutung des Gewesenen hat also zu bedenken, dass Vergangenheit kein objektiver Bestand ist, sondern eine höchst situationsabhängige Konstruktion und dass auch Erinnerung weitgehend von der Gegenwart bestimmt wird. Bereits die sehr kurze und grobe Analyse der Themen der in der Zeitschrift gedruckten Originalarbeiten, mit denen sich die Ärzte in „öffentlichen Diensten” befasst haben, zeigt die besonders nahe Beziehung ihrer Aufgabe zur gesellschaftlichen Situation, d. h. vor allem zu jeweils aktuellen gesundheitspolitischen Vorgaben und Zielen.

Öffentliche Gesundheit im modernen Verständnis, auch im Sinne von New Public Health, ist nicht allein das Ergebnis dessen, was öffentlicher Gesundheitsdienst leistet, sondern auch die Hoffnung des Individuums auf strukturierte gesellschaftliche Anstrengungen auf breiter Basis, um Krankheiten zu verhindern, Leben zu verlängern und Gesundheit zu fördern. Krankheit ist immer Krankheit des Individuums, die aber immer in enger Beziehung zur Gesellschaft und deren Wohl steht. Öffentliche und individuelle Gesundheit sind Teilaspekte eines einheitlichen humanen und solidarischen Anliegens. Derzeit dokumentiert „Das Gesundheitswesen” dazu zeitnah die Debatte über Rationalisierung und Rationierung gesundheitlicher Leistungen.

Aus der Vergangenheit, plakativ dokumentiert im Wandel des Titels unserer Zeitschrift von „Der öffentliche Gesundheitsdienst” bis zu „Das Gesundheitswesen”, kann für die Zukunft die Frage gestellt werden nach einer prinzipiellen Orientierung für Autoren, die mit ihren Beiträgen auch humane und/oder politische Verantwortung für Gesundheit anderer Menschen übernehmen, unabhängig oder in Bindung an den Träger ihrer Dienststelle bzw. zu ihrer Forschungsförderung.

Für die Bewertung gesundheitspolitischer Maßnahmen und für Entwicklungen in der Medizin erhebt die Sozialmedizin stets die dichotome Frage nach deren Bedeutung für das Individuum und für die Gesellschaft bzw. einer Interessengruppe in ihr. Dichotomie, also Zweiteilung, ist eine Methode, die immer einem Begriff zwei andere unterordnet oder diesen beiden einen anderen überordnet. Ob bei der Formulierung neuer Gesundheitsziele, bei der gutachterlichen Stellungnahme oder bei der Bewertung von Forschungsergebnissen, stets sollten als dichotome Unterbegriffe die Auswirkungen auf das Individuum und auf die Gesellschaft geprüft und Ungleichgewichte dargestellt werden. Diese Evaluation ist geeignet, die Vormacht eines gesellschaftlich begründeten Zieles zu Lasten des Individuums und umgekehrt zu erkennen.

Der Rückblick auf Themen unserer Zeitschrift seit ihrer Erstausgabe zeigt, dass bei der bis heute vorherrschend getrennten Betrachtung öffentlicher und individueller Gesundheit besonders Maßnahmen zur öffentlichen Gesundheit stets dahingehend zu prüfen sind, ob sie geeignet sind, individuelle Gesundheit und Krankheitsbewältigung zu fördern, zu mindern oder gar dem elementaren nil nocere des Hippokratischen Eides entgegenzustehen. Das heißt in diesem Zusammenhang auch Antwort geben auf Fragen nach Freiheit und Notwendigkeit, Autonomie und Abhängigkeit und nach Beziehung und Vereinzelung. Die Kernfrage der Sozialmedizin ist das gesundheitliche Wohlergehen des Individuums, ohne zu übersehen, dass Menschen immer auch in und mit der Gesellschaft leben.

Prof. Dr. J. G. Gostomzyk Gesundheitsamt Hoher Weg 8 D-86152 Augsburg

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