PPH 2014; 20(02): 108-109
DOI: 10.1055/s-0034-1371792
Quintessenz
Für Sie gelesen: Aktuelle Studien
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

JAMA Psychiatry

Contributor(s):
Rüdiger Noelle
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Publication Date:
21 March 2014 (online)

Patientenentscheidung kann Behandlungsergebnis verbessern

Der Titel lautet im Deutschen: Genesung bei Menschen mit remittierenden psychotischen Erstepisoden. Verlaufsuntersuchung nach sieben Jahren mit einer frühen Medikamentenreduktion beziehungsweise Diskontinuitäten in der Medikamenteneinnahme im Vergleich mit dem medikamentösen Behandlungsstandard; Fünfjahres-Follow-up nach einer zweijährigen randomisierten klinischen Studie.

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(Foto: JAMA Psychiatry, September 2013, Volume 70, Number 9, Pages 913-920; Copyright © 2013 American Medical Association. All rights reserved.)

Hintergrund: Unter Alltagsbedingungen setzt eine erhebliche Anzahl von Patienten mit remittierenden psychotischen Erstepisoden ihre antipsychotische Medikation ab und riskiert (fraglich) mehr Rückfälle und verringert ihre (ebenso fraglich) Chancen der Genesung.

Kurzfristige Studien, die sich mit der Dosisverringerung von Neuroleptika oder Brüchen in der Einnahmekontinuität bei Patienten mit remittierenden psychotischen Erstepisoden beschäftigen, zeigen diese zu erwartenden erhöhten Rückfallraten. So zeigt zum Beispiel eine Studie von Robinson et al. [1] eine um das fünffach erhöhte Rückfallrate, wenn die Betroffenen selbst über die weitere Medikamenteneinnahme entscheiden gegenüber Betroffenen, die die Standardmedikation regelhaft fortsetzen. Auch werden keine anderen Vorteile der Medikamentenreduktion beschrieben. Das bestätigt die Anwendung gängiger Richtlinien, die empfehlen, die antipsychotische Medikation mindestens ein Jahr über die Symptomfreiheit hinaus weiter zu verordnen.

Alle bisherigen Studien betrachteten aber lediglich Verläufe bis zu maximal zwei Jahren. Langzeiteffekte von Behandlungsstrategien wurden bisher noch nicht betrachtet. Die bestehenden Richtlinien zielen im Wesentlichen auf die Vermeidung des Wiederauftretens von Symptomen. Aber es wächst ein Bewusstsein dafür, dass neben den Rückfällen auch die Alltagsfähigkeiten und Teilhabemöglichkeiten am gesellschaftlichen Leben in den Blick genommen werden müssen.

Ziel der Studie: Unter diesem Aspekt ist es das Ziel der vorliegenden Studie, die Auswirkungen einer frühen Medikamentenreduktion beziehungsweise Diskontinuitäten in der Medikamenteneinnahme auf Patienten mit einer remittierenden psychotischen Erstepisode mittels einer längerfristigen Verlaufsstudie zu untersuchen.

Methode: Fünf Jahre nach einer zweijährigen randomisierten klinischen Studie, in der die Standardbehandlung mit einer frühen Medikamentenreduktion in Bezug auf die Rückfälle der psychotischen Episoden verglichen wurde, besuchten die Mitarbeiter, die die Patienten in der ersten Studie begleitet hatten, diese erneut. In einem teilstrukturierten Interview wurden der Verlauf und die Folgen der psychotischen Episoden während der vergangen Jahre erfragt.

Einbezogen wurden 103 Patienten (80,5 Prozent) aus der zweijährigen randomisierten klinischen Studie. Diese waren eine Auswahl aus 257 Patienten mit remittierenden psychotischen Erstepisoden von Oktober 2001 bis Dezember 2002, die von sieben psychiatrischen Pflegediensten einer Region mit 3,2 Millionen Einwohnern versorgt wurden.

Das Assessment der Verlaufsuntersuchung erfragte die Schwere von etwaigen Symptomen und den Grad der Einschränkung der Alltagsfähigkeiten sowie der sozialen Einbindung in den letzten sechs Monaten. Hierzu wurden die „Positive and Negative Syndrome Scale“ (PANSS; → [Glossar]) und die „Groningen Social Disability Schedule“ (GSDS; → [Glossar]) eingesetzt.

Für eine als positive gewertete Genesung mussten alle relevanten Items der PANSS als „mild” oder „nicht vorhanden“ in den letzten sechs Monaten rückblickend in den Interviews bezeichnet werden. Für die GSDS wurde als Genesung gewertet, wenn die Patienten während der Beobachtungsperiode von sechs Monaten in allen Bereichen mit null oder eins gewertet wurden.

Um die Medikation vergleichen zu können, wurden die verschriebenen Medikamente in Haloperidol-Äquivalente (→ [Glossar]) umgerechnet. Erfasst wurden die Daten aus der Zweijahresuntersuchung sowie die Aufzeichnungen der Patienten. Es wurden Durchschnittswerte ermittelt, bei deren Auswertung Berechnungen angefertigt wurden, bei denen der Schnitt mit und ohne komplett medikationsfreie Tage erstellt wurde.

Ergebnisse: Bei den Patienten mit einer Medikamentenreduktion war die Genesungsrate signifikant höher als bei den Patienten, die nach den Richtlinien medikamentös behandelt wurden. Die Patienten, die früh ihre Medikation reduzieren konnten, zeigten eine zweifach höhere Besserungsquote (40,4 Prozent vs. 17,6 Prozent) als die Patienten mit der Standardbehandlung. Die Besserung ging einher mit einem Rückgang der Funktionseinbußen, war aber nicht abhängig von einem Rückgang der Symptome.

Der Unterschied ergibt sich aus der Wiedererlangung der Funktionalitäten. Eine Symptomreduktion ohne gleichzeitige Verbesserung der Funktionsfähigkeiten fand sich bei 38 Prozent aller Patienten. Eine funktionale Einschränkung bei Verringerung der psychotischen Symptome fand sich bei vier Prozent der Patienten und bei 28 Prozent aller Patienten zeigten sich Verbesserungen sowohl bei den Symptomen als auch im Bereich der Funktionalität.

Die antipsychotische Medikation (durchschnittliche tägliche Dosis als Haloperidol -Äquivalent in Milligramm) lag während der zweijährigen Untersuchung bei den Patienten mit einer Dosisreduktion bei 2,2 mg und bei der Standarddosierung bei 3,6 mg. Jeweils drei Patienten hatten während der zweijährigen Studie sowohl in der Reduktionsgruppe als auch in der Standardgruppe die Medikation ganz eingestellt. Bis zur Follow-up-Untersuchung stieg die Zahl auf insgesamt elf Patienten in der Reduktionsgruppe und auf sechs Patienten in der Gruppe mit der Standardtherapie. Wenn diese Patienten, die die Medikation in der Zwischenzeit ganz eingestellt hatten, herausgerechnet werden, findet sich ein Unterschied von 2,2 mg zu 4,0 mg.

Die tatsächlich reduzierte Durchschnittsdosis in der Gruppe der Patienten mit einer Dosisreduktion erfolgt im Wesentlichen aus der weniger kontinuierlichen Einnahme der Medikamente im Vergleich zu der Gruppe mit der Standardmedikation, wobei auch ein gleichzeitiger Trend zur Reduktion der einzelnen Dosis zu verzeichnen ist.

Schlussfolgerungen: Dem Wissen der Autoren nach ist dies die erste Studie, die sich mit dem Nutzen einer frühen Veränderung der Neuroleptika-Therapie bei diesen Patienten beschäftigt. Dosisverringerung von Neuroleptika oder Brüche in der Einnahmekontinuität im frühen Stadium remittierender psychotischer Erstepisoden zeigten sich bei der langfristigen Besserung der Standardtherapie als überlegen.

Dabei merken die Autoren folgendes kritisch an: Die Auswahl der Patienten in der Originalstudie geschah unter dem Einfluss, dass ungefähr die Hälfte der in Frage kommenden Patienten nicht bereit war, an der Studie teilzunehmen. Gerade diese Patienten wiesen höhere Funktionseinbußen auf, waren weniger mit der Therapie einverstanden und waren in der Kontaktaufnahme schwieriger.

Die erlebte Verbesserung der funktionalen Fähigkeiten kann sehr wohl auf die niedrigeren Dosierungen der Neuroleptika zurückgeführt werden. Dabei gehen die Autoren von der einschränkenden Wirkung der durch Dopamin bedingten Signalübertragung aus, die mit der geringeren Dosis abnimmt. Aber auch andere wichtige psychische Funktionen wie zum Beispiel Aufmerksamkeit oder Antrieb könnten von der unterschiedlichen aber prinzipiell niedrigeren Medikation profitieren.

Auffallend ist bei der Studie ebenfalls noch die Reduktion der Rückfälle mit psychotischen Symptomen in der Gruppe mit der Medikamentenreduktion ungefähr nach drei Jahren. Während der Zeit der ersten Untersuchung mit der Standardmedikation waren weniger Symptomrückfälle zu verzeichnen und am Ende konnten keine nennenswerten Unterschiede mehr aufgezeigt werden. Die Autoren leiten daraus die Möglichkeit ab, dass die Standardmedikation möglicherweise die Rückfallquote zunächst verschiebt, sie aber nicht verhindern kann.

Die Ergebnisse der Studien bringen die Autoren zu folgenden Schlussfolgerungen: Die Behandlung schizophrener Psychosen sollte primär sowohl auf die Besserung der Symptome als auch auf die Wiederherstellung der alltäglichen Fähigkeiten und sozialen Teilhabe bezogen werden. Gerade die Vorteile für die Betroffenen im Bereich der Funktionalität, in dem in ihrem Leben gewohnten Umfeld, zeigen sich erst bei einer längerfristigen Betrachtungsweise. Dazu sollten unbedingt vermehrt Instrumente eingesetzt werden, die ihre Sensibilität besonders in den Bereichen des alltäglichen Lebens, der Selbstfürsorge, der Arbeit und des Studiums sowie in den Beziehungen zu anderen haben.

Weitere Studien sind erforderlich, um die Ergebnisse gegenüber der üblichen Praxis zur Wirkung zu bringen.

Vor dem Hintergrund, dass Psychiatrische Pflege im Rahmen der langfristigen Begleitung psychisch kranker Menschen und ihrer Bezugspersonen eine zunehmende Bedeutung spielen wird, sind die Ergebnisse der Studie von großer Bedeutung. Um eine evidenzbasierte Pflege im Hinblick auf die Behandlung mit Psychopharmaka zu gewährleisten, gilt es den Forschungsergebnissen zufolge, einer langfristigen Behandlung entsprechend besondere Aufmerksamkeit zu schenken.

Dr. Rüdiger Noelle

Glossar

P ositive and Negative Syndrome Scale (PANSS): In der PANSS sind die Symptome drei Skalen zugeordnet: der Positivskala, zu der Wahn, formale Denkstörung, Halluzinationen, Erregung etc. gehören; der Negativskala, die Affektverarmung, emotionale Isolation, mangelnde Beziehungsfähigkeit etc. umfasst und der psychopathologischen Globalskala, welche Angst, Schuldgefühle, ungewöhnliche Denkinhalte, Störung der Willensbildung etc. enthält. Die PANSS-Beurteilung basiert auf der Befindlichkeit des Patienten in den letzten sieben Tagen.

G roningen Social Disability Schedule (GSDS): Die GSDS ist ein halbstrukturiertes forschungsbasiertes Interview, welches Beeinträchtigungen in sozialen Bezügen in acht Bereichen während der letzten vier Wochen und der letzten sechs Monate erfragt. In die vorliegende Studie wurden die Bereiche Selbstfürsorge, Haushalt, familiäre und partnerschaftliche Beziehungen, Integration in das soziale Umfeld, berufliches Umfeld einbezogen (der Bereich Elternschaft war in keinem Fall zutreffend). Die Bereiche wurden nach Einschränkungen gewertet von keine (0), minimal (1), offensichtlich (2) bis ernsthaft (3).

Ä quivalenzdosis: Maß für die antipsychotische Wirksamkeit einer Substanz; wird mit der Einheit Chlorpromazin-Äquivalent (CPZ) angegeben. Als Referenzwert von 1 wurde Chlorpromazin festgelegt, der erste als Neuroleptikum verwendete Wirkstoff. Beim Haloperidol findet sich ein CPZ-Äquivalent von 50. Angaben zur empfohlenen mittleren und (maximalen) Dosis je Tag schwanken zwischen 1,5 bis 20 (-100) mg.

 
  • Literatur

  • 1 Robinson D, Woerner MG, Alvir JM et al. Predictors of relapse following response from a first episode of schizophrenia or schizoaffective disorder. Arch Gen Psychiatry 1999; 56 (03) 241-247