Lege artis - Das Magazin zur ärztlichen Weiterbildung 2013; 3(3): 137
DOI: 10.1055/s-0033-1349297
Editorial
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Kritik unter Kollegen: schwierig, aber wichtig

Daniela Erhard
,
Peter Galle
,
Götz Geldner
,
Alfred Königsrainer
,
Frank-Gerald Pajonk
,
Julia Rojahn
Further Information

Publication History

Publication Date:
11 July 2013 (online)

Liebe Leserin, lieber Leser,

vielleicht kennen Sie diese Situation: Sie haben das Gefühl, ein Kollege mache einen Fehler – aber Sie trauen sich nicht, ihn darauf hinzuweisen. Aus Angst, sich zu blamieren oder ihm zu nahe zu treten. Von einem solchen Erlebnis berichtet die australische Onkologin Dr. Ranjana Srivastava im New England Journal of Medicine (2013; 368: 302–305): Ein Patient mit metastasiertem Lungenkrebs sollte wegen eines Pleuraergusses in ihrer Klinik operiert werden. Als sie am Morgen vor dem Eingriff seine Schmerzmedikamente überprüfte, fand sie ihn nicht stabil genug für eine Operation. Er schien ihr schon fast im Sterben zu liegen. Trotzdem zögerte sie, ihre Zweifel dem Chirurgen zu schildern, obwohl sie ihn noch auf dem Klinikflur traf. Schließlich würde er schon wissen, was er tut – er war schließlich der Fachmann.

Leider bestätigte sich ihre Befürchtung: Der Patient überlebte die Operation zwar, musste aber intubiert werden und starb kurz darauf. Die Ärztin machte sich Vorwürfe: Man hätte die OP wohl besser abgesagt, die Schmerzen aggressiv behandelt und gemeinsam mit den Angehörigen die Wünsche des Patienten geklärt. Schließlich sprach sie darüber mit dem Chirurgen – und er fragte zurück: „Warum haben Sie denn nichts gesagt?“

Tatsächlich hatte auch er Zweifel am Sinn des Eingriffs gehabt, sich aber damit beruhigt, dass Srivastava den Patienten ebenfalls gesehen hatte. „Wenn Sie Ihre Befürchtung erwähnt hätten, hätte ich nicht operiert!“ versicherte er ihr.

Beiden Ärzten hat dieser Vorfall deutlich gemacht, wie falsch es sein kann, seine eigene Meinung aus Rücksicht auf Hierarchien und Dienstwege zu verschweigen. Ihre Lehre aus diesem Ereignis: ein neuer Weg der Entscheidungsfindung. In unklaren Fällen bittet der Chirurg die Internistin seither um eine unabhängige Einschätzung zur Operationsfähigkeit. Bleiben dann noch Zweifel, sprechen sie gemeinsam mit dem Patienten.

Was in Australien gilt, kann auch hier nicht ganz falsch sein: Wer Entscheidungen seiner Kollegen fragwürdig findet, sollte seine Bedenken äußern – auch dies ist Teil der ärztlichen Verantwortung. Es muss ja nicht gleich der offene Widerspruch in großer Runde sein: Oft reicht es schon, etwas genauer nachzufragen. Der fachliche Austausch, der sich daraus ergibt, ist wertvoll – und hilft auch dem Patienten.

Mit herzlichen Grüßen

Ihre Herausgeber und Ihre Redaktion

Herausgeber

P. Galle, Mainz

G. Geldner, Ludwigsburg

A. Königsrainer, Tübingen

F.-G. B. Pajonk, Schäftlarn

Experten-Panel

P. Berlit, Essen

S. Bleich, Hannover

J. Bossenmayer, Stuttgart

H.- P. Bruch, Lübeck

M. Christ, Nürnberg

B. Debong, Karlsruhe

T. Hemmerling, Montreal

D. F. Hollo, Celle

J. Riemann, Ludwigshafen

Schlichtungsstelle für Arzthaftpflichtfragen der norddeutschen Ärztekammern, Hannover

Redaktion

Dr. Daniela Erhard

Georg Thieme Verlag KG

Rüdigerstraße 14 74069 Stuttgart

E-Mail: legeartis@thieme.de