neuroreha 2013; 5(01): 7-8
DOI: 10.1055/s-0033-1337342
Aktuelles aus der Forschung
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Gelesen und kommentiert

Contributor(s):
Jan Mehrholz
1   Prof. Dr. rer. medic. habil. Jan Mehrholz, SRH Hochschule für Gesundheit, Gera gGmbH, Villa Hirsch, Hermann-Drechsler-Str. 2, 07548 Gera
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Publication History

Publication Date:
28 February 2013 (online)

Magnetstimulation verbessert eindrucksvoll Alltagsaktivitäten bei Patienten mit Neglekt

Zusammenfassung der Studie

Ziele

Ziel der Studie war es, den Effekt von repetitiver transkranieller Magnetstimulation (rTMS; genauer Theta-Burst-Stimulation) auf Alltagsleistungen und räumlichen Neglekt nach Schlaganfall zu untersuchen.


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Methodik

Patienten

Zu den Studienteilnehmern zählten 24 Rechtshänder, die ca. vor 26 Tagen einen Schlaganfall erlitten hatten. Unter den Probanden befanden sich sieben Frauen. 14 Teilnehmer hatten eine ischämische und 10 Teilnehmer hatten eine hämorrhagische Läsion. Sie wurden in eine von drei Gruppen eingeteilt.


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Design

Es handelt sich um eine doppelt verblindete, randomisierte und Placebo-kontrollierte Studie (RCT).

Die Untersucher schlossen Patienten mit linksseitigem Neglekt nach erstem Schlaganfall der rechten Hemisphäre ein und schlossen Patienten z. B. mit Epilepsie, Schädel-Hirn-Trauma, Drogen- und /oder Alkoholabusus und schweren psychiatrischen Erkrankungen (also nach internationalen Leitlinien für die Anwendung transkranieller Magnetstimulation) aus.


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Interventionen

Die drei Gruppen wurden folgendermaßen unterteilt:

  • Gruppe A bekam Versuchsplan A, d. h. zunächst rTMS gefolgt von Placebo rTMS.

  • Gruppe B erhielt Versuchsplan B, d. h. zunächst Placebo rTMS gefolgt von rTMS.

  • Gruppe C bekam keine Hirnstimulation.

Die rTMS wurde über zwei aufeinanderfolgende Tage achtmal durchgeführt und auf dem kontraläsionalen linken posterioren parietalen Kortex appliziert.


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Ergebnisparameter

Alle Messungen führten die Forscher mittels verblindeten Untersuchern zu Beginn, zum Ende des ersten und zum Ende des zweiten Therapieblocks durch. Dabei nutzten sie folgende drei neuropsychologische Testgruppen zur Erfassung eines räumlichen Neglekts: 1. Durchstreichtests: „Star Cancellation Test“ [10], „Random Letter Cancellation Test“ [9] oder „Bells Test“ [3], 2. Linienstreichtests: „Line Bisection Task“ [8], „Line Bisection Test“ [10] oder „Complex Line Bisection Test“ [2], 3. Zeichenaufgaben: „Rey-Osterrieth Complex Figure Test“ [6], „Five-Point Test“ [7], „Figure Copying Test“ [5], „Copy Drawing Test“ [4] oder „Clock Drawing Test“.

Die Catherine Bergego Scale (CBS) wendete das Forscherteam als standardisierte Beurteilung des Neglekts unter Alltagsbedingungen an [1].


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Ergebnisse

Zu Beginn der Studie waren alle drei Gruppen hinsichtlich wichtiger prognostischer Variablen vergleichbar. Jeder Patient beendete alle Untersuchungen, d. h., es gab keine Studienabbrecher. Die rTMS wurde von allen Patienten, die stimuliert wurden, nach Angaben der Autoren sehr gut toleriert. Am Studienende gab es eine signifikante Reduktion des Neglekts bei allen Patienten, die rTMS erhielten (Gruppe A und B), gemessen mit der Catherine Bergego Scale – um etwa 37 %.

Es fand sich kein Zusammenhang zwischen den Verbesserungen des Neglekts weder mit dem Alter der Patienten noch mit der Ausgangsschwere des Neglekts oder der Größe der Hirnläsion.

Sowohl das Aufspüren linksseitiger Ziele als auch die Reaktionszeit bei solchen Aufgaben verbesserten sich nach rTMS ebenfalls signifikant. Interessanterweise hielten die Verbesserungen auch noch drei Wochen nach Stimulation weiter an.


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Schlussfolgerung

Die Autoren schlussfolgern, dass durch das Applizieren von rTMS sich der räumliche Neglekt nach Schlaganfall deutlich reduzieren lässt.


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Kommentar

Die Studie zeigt einen sehr modernen Ansatz in der Neurorehabilitation: die Hirnstimulation mit rTMS und ihre fast schon spektakuläre Wirkung auf den räumlichen Neglekt nach Schlaganfall. Die Wahl eines Cross-over-Studiendesigns verkompliziert (aufgrund dieses Designs) zwar etwas die Auswertung bzw. Darstellung der Effekte, dennoch ist den Autoren mit dieser Arbeit zweifelsfrei eine hervorragende Untermauerung dieses nichtinvasiven Hirnstimulationsverfahrens gelungen.

Eine Frage bleibt jedoch: nämlich warum sich der Neglekt durch rTMS verbessert. Die Autoren argumentieren mit dem bekannten Modell der gegenseitig konkurrierenden Hirnhälften. Nach diesem Modell führt eine Läsion des für die Aufmerksamkeit zuständigen Netzwerks einer Hemisphäre zu einer unzureichenden transkallosalen Hemmung des kontralateralen intakten Systems. Es kommt zu einer pathologischen Hyperaktivität der kontraläsionalen Hemisphäre, was u. a. die räumlich visuelle Aufmerksamkeit beeinträchtigt und so in einem räumlichen Neglekt resultiert. Insgesamt wünschenswert wären neben der Suche nach optimalen Parametern (Dosis, Dauer, Frequenz etc.) für die rTMS-Behandlung des Neglekts ebenfalls Ansätze zur Verbreitung dieses funktionellen Ansatzes in Kliniken und Praxen.

Von einem flächendeckenden Angebot der rTMS als Therapieansatz ist man noch sehr weit entfernt. Es sollte dabei auch zumindest diskutiert werden, ob die rTMS nicht auch von Therapeuten erlernt werden könnte, um eine therapeutische Nutzung voranzubringen.

Fazit: Insgesamt weist diese Studie hohe Evidenz für die Anwendung der rTMS bei Patienten mit Neglekt nach einem Schlaganfall nach.


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  • Literatur

  • 1 Azouvi P, Marchal F, Samuel C et al. Functional consequences and awareness of unilateral neglect: Study of an evaluation scale. Neuropsychol Rehabi 1996; 2: 133-150
  • 2 Butter CM, Mark VW, Heilman KM. An experimental analysis of factors underlying neglect in line bisection. J Neurol Neurosurg Psychiatry 1988; 12: 1581-1583
  • 3 Gauthier L, Dehaut F, Joanette Y. The bells test: A quantitative and qualitative test for visual neglect. Int J Clin Neuropsychol 1989; 49-54
  • 4 Halligan P, Cockburn J, Wilson B. The behavioural assessment of visual neglect. Neuropsychol Rehabil 1991; 5-32
  • 5 Morris JC, Heyman A, Mohs RC et al. The Consortium to Establish a Registry for Alzheimer‘s Disease (CERAD). Part I. Clinical and neuropsychological assessment of Alzheimer‘s disease Neurology 1989; 9: 1159-1165
  • 6 Osterrieth P. Le test de copie d‘une figure complexe. Arch Psychol 1944; 206-356
  • 7 Regard M, Strauss E, Knapp P. Children‘s production on verbal and non-verbal fluency tasks. Percept Mot Skills 1982; 3 Pt 1: 839-844
  • 8 Schenkenberg T, Bradford DC, Ajax ET. Line bisection and unilateral visual neglect in patients with neurologic impairment. Neurology 1980; 5: 509-917
  • 9 Weintraub S, Mesulam MM. Visual hemispatial inattention: stimulus parameters and exploratory strategies. J Neurol Neurosurg Psychiatry 1988; 12: 1481-1488
  • 10 Wilson B, Cockburn J, Halligan P. Behavioural Inattention Test. Titchfield, UK: Thames Valley Test Company; 1987