Aktuelle Neurologie 2012; 39(10): 523-524
DOI: 10.1055/s-0032-1327425
Editorial
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Leitlinien: Medizin im Spannungsfeld zwischen Evidenz, Eminenz und Erfahrung

Guidelines: Medicine in the Conflict Area between Evidence, Eminence and Experience
G. Krämer
Schweizerisches Epilepsie-Zentrum
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Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
03. Januar 2013 (online)

Ich erinnere mich noch recht gut an ein Erlebnis als junger Privatassistent, als eine Patientin mit einer eher seltenen Erkrankung den Chefarzt nach den Erfolgsaussichten der von ihm vorgeschlagenen Behandlung fragte. Er antwortete ohne Zögern mit „100 Prozent“, woraufhin die Patientin einwilligte. Die Auskunft war insofern richtig, als er diese (schon damals umstrittene und retrospektiv als wirkungslos einzustufende Behandlung) wenige Wochen zuvor zum ersten und bislang einzigen Mal eingesetzt hatte, wonach es zu einer gewissen Besserung gekommen war. Obwohl also nicht falsch, war die Auskunft dennoch zumindest nach heutigen Gesichtspunkten nur von zweifelhaftem Wert für die Patientin, bei der die Therapie auch zu keiner Besserung führte.

In diesem Heft der Aktuellen Neurologie befassen sich die ersten beiden Artikel mit den Leitlinien für die Diagnose, Therapie und Versorgung in der Neurologie der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) unter Beteiligung der entsprechenden Fachgesellschaften in Österreich und der Schweiz. Diener und Koautoren (die federführenden Autoren der jeweiligen Kapitel) stellen dankenswerterweise nochmals die Hintergründe der Leitlinienentstehung und ihrer regelmäßigen Aktualisierung dar [1]. Diese kürzlich auch (letztmals) in Buchform publizierten Leitlinien haben sich seit dem erstmaligen Erscheinen vor 10 Jahren zu einer für viele Kolleginnen und Kollegen unentbehrlichen Orientierungshilfe bei der zunehmend komplexer werdenden Auswahl von diagnostischen und therapeutischen Optionen entwickelt, um das uns viele andere Disziplinen wie etwa die Psychiater und Psychotherapeuten beneiden. In diesem Bereich gibt es zwar ebenfalls schon mehrere, aber keine vergleichbar umfassenden Leitlinien. Beispielsweise wird in einem Standardwerk zur Psychopharmakotherapie der MAO-Hemmer Moclobemid als Mittel der Wahl zur Behandlung von Depressionen bei Epilepsien empfohlen [2], obwohl es m. W. keine einzige diesbezügliche Studie, aber Bedenken hinsichtlich der Arzneimittelsicherheit [3] gibt.

Leitlinien basieren auf aussagekräftigen Studien. Ein Pionier diesbezüglich war der englische Pneumologe und Epidemiologe Archibald Leman Cochrane (1909 – 1988), Professor für Pneumologie und Direktor einer epidemiologischen Forschungsgruppe in Cardiff. Er schlug in seinem bahnbrechenden Buch „Effectiveness and Efficiency – Random Reflections on Health Services“ von 1972 [4] erstmals vor, dass in der Medizin Verfahren mit nachgewiesener Wirksamkeit bevorzugt werden sollten und gilt als Vater der evidenzbasierten Medizin [5]. Die ständig aktualisierten und im Internet leicht verfügbaren Cochrane-Reviews [6] sind inzwischen zu einer wertvollen Ressource für die Bewältigung der Flut neuer Studienergebnisse geworden.

Auch bei der Erstellung von Leitlinien durch Expertengruppen gibt es aber unterschiedliche Bewertungen der Datenlage. Dies wird beispielsweise bei einem Vergleich vorliegender Leitlinien zur Behandlung von Epilepsien mit fokalen Anfällen im Erwachsenenalter deutlich. Ein Teil der Diskrepanzen geht sicherlich auf die unterschiedlichen Erstellungszeitpunkte zurück, aber auch bei aktuellen Leitlinien aus demselben Jahr wie beispielsweise der DGN und der englischen National Institutes for Health and Clinical Excellence (NICE) von 2012 [7] ist die Übereinstimmung begrenzt. So empfehlen die DGN-Leitlinien Lamotrigin und Levetiracetam als i. d. R. zu bevorzugende Mittel erster Wahl (daneben auch noch weitere Wirkstoffe wie Carbamazepin, Gabapentin, Oxcarbazepin oder Valproinsäure), während Levetiracetam ebenso wie Oxcarbazepin und auch Valproinsäure nach den NICE-Guidelines nur zweite Wahl sind.

Nicht nur wegen solcher Diskrepanzen ist es vielleicht auch nicht so verwunderlich, dass Leitlinien in der Praxis nicht immer umgesetzt werden. Dorschu und Bauer [8] sind anhand der im Jahr 2009 erstmals in der Ambulanz der Klinik für Epileptologie der Universität Bonn vorgestellten Patienten der Frage nachgegangen, inwieweit die Leitlinien in der Praxis zur Anwendung kommen. Als Ergebnis halten sie fest, dass sowohl hinsichtlich der Diagnostik als auch Therapie noch deutliche Optimierungsmöglichkeiten bestehen. Daraus darf man folgern, dass nach wie vor Bedarf an Fortbildungsveranstaltungen und regelmäßigen Updates nicht nur der Leitlinien selbst, sondern auch durch begleitende Fort- und Weiterbildungsmaßnahmen besteht.

Auf der anderen Seite muss eine den individuellen Besonderheiten und Bedürfnissen des Patienten gerecht werdende Betreuung ohnehin über die Befolgung von Leitlinien hinausgehen. Diener und Koautoren schreiben dazu: Leitlinien „ersetzen nicht die kritische Berücksichtigung der individuellen Umstände und Präferenzen eines Patienten und eines Krankheitsbildes mit Komorbiditäten“ [1]. Leider besteht auch nach wie vor kein Zwang zur Publikation „negativer“ Studien. Es gibt zwar ein europäisches Studienregister (EudraCT), wo klinische Studien gemeldet werden müssen, es ist aber nicht frei zugänglich. Kürzlich wurde in der EU eine neue Website aufgeschaltet (www.clinicaltrialsregister.eu), die aber ebenfalls nur begrenzte Informationen über randomisierte Studien in Europa anbietet. Das US-amerikanische Register (www.clinicaltrials.gov) ist diesbezüglich besser, bietet weitaus mehr Informationen und schreibt insbesondere auch vor, dass Studienergebnisse mit zugelassenen Medikamenten innerhalb von 12 Monaten nach Abschluss der Studie veröffentlicht werden müssen. Einschränkend gilt jedoch auch hier, dass dies nur für seit 2008 zugelassene Medikamente gilt und weithin missachtet wird [9].

Bleiben noch die in der Praxis nicht zu vernachlässigenden Bereiche der Diagnostik, Therapie und Versorgung neurologischer Krankheiten, für die zumindest bislang keine evidenzbasierten Leitlinien zur Verfügung stehen. Hier können vielleicht der schon etwas ältere, aber nach wie vor lesenswerte Beitrag von zwei australischen Kollegen im British Medical Journal [10] und darauf folgende Leserbriefe [11] mit Vorstellung einiger Alternativen zur evidenzbasierten Medizin helfen:

  • Die eminenzbasierte Medizin ist davon sicherlich am bekanntesten. Je älter der Kollege sei, desto weniger Bedeutung messe er etwas so Banalem wie Evidenz bei. Erfahrung, so scheine es, sei weitaus wichtiger und auf deren Grundlage würden über viele Jahre hinweg mit zunehmender Zuversicht dieselben Fehler gemacht. Das weiße und teilweise ausgefallene Haar der Eminenzen werde als „Halo“-Effekt bezeichnet.

  • Bei der vehemenzbasierten Medizin werde die fehlende Beweislage durch eine effektive Technik des Einsatzes der Augenbrauen gegenüber ängstlichen Kollegen oder im Gespräch mit zu überzeugenden Angehörigen ausgeglichen.

  • Das Geheimnis der eloquenzbasierten Medizin bestehe in der ganzjährigen Verwendung von Sonnencreme, dem Tragen von Nelken im Knopfloch, Seidenkrawatten und Armani-Anzügen sowie des Einsatzes einer vergleichbar glatten Zunge.

  • Bei der vorsehungsbasierten Medizin lege der fürsorgliche Arzt bei unklaren Situationen die Entscheidung vertrauensvoll in die Hände des Allmächtigen. Immer noch zu viele Ärzte könnten der Versuchung nicht widerstehen, dem lieben Gott die Entscheidungsfindung zu überlassen.

  • Die Grundlage der misstrauensbasierten Medizin bestehe darin, dass manche Ärzte nach der Lösung von Problemen suchten, während andere schon Mühe hätten, ein Problem überhaupt zu erkennen. Der misstrauische Arzt könne aus dem Gefühl der Verzweiflung heraus dazu neigen, nichts zu tun. Das sei aber möglicherweise besser, als einfach etwas zu tun, nur weil es den ärztlichen Stolz verletze, nichts zu tun.

  • Die nervositätsbasierte Medizin auf der Grundlage von Angst vor Klagen von Patienten sei ein leistungsfähiger Anreiz für überflüssige Untersuchungen und Behandlungen. In einer Atmosphäre der Angst vor Rechtsstreitigkeiten sei die einzige schlechte Untersuchung diejenige, an die man nicht gedacht habe.

  • Das Geheimnis der besonders bei chirurgischen Kollegen verbreiteten zuversichtbasierten Medizin bestehe in der unumstößlichen Gewissheit des Arztes, dass er alles im Griff habe. Marker dieser Methode sei die chirurgische Bravour im OP und Maßeinheit dessen Schwitzen.

  • Die propagandabasierte Medizin beruhe darauf, dass den meisten Ärzten heute keine Zeit bleibe, sich über den wissenschaftlichen Fortschritt selbst auf dem Laufenden zu halten. Insofern basierten ihre Entscheidungen meist auf den farbenfrohen Foldern der sie betreuenden Pharmareferenten.

  • Das Prinzip der besonders bei der Betreuung privat versicherter Patienten anzutreffenden profitbasierten Medizin (auch bekannt als opulenzbasierte Medizin) bestehe in der gewissenhaften und nachhaltigen Nutzung der profitabelsten Untersuchungen und Eingriffe bei der Patientenversorgung.

Welche dieser sicherlich noch durch weitere Optionen ergänzbaren Alternativen zur evidenzbasierten Medizin auch immer Ihnen am sympathischsten ist bzw. Ihrem Alltag in der Klinik oder Praxis am nächsten kommt, denken Sie immer daran: Auch bei fehlender Beweislage durch aussagekräftige Studien gibt es zahlreiche Wege und Möglichkeiten, Ihre Patienten gut und erfolgreich zu betreuen. Diese herauszufinden und anzuwenden, macht Medizin sowohl zu einer Kunst als auch zu einer Wissenschaft [9].