NOTARZT 2012; 28(05): 215-216
DOI: 10.1055/s-0032-1305232
Fortbildung
Der toxikologische Notfall
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Tiefschlaf

K. Knoll
Charité – Universitätsmedizin Berlin, Campus Virchow Klinikum, Klinik für Nephrologie und internistische Intensivmedizin (komm. Direktoren: Prof. Dr. A. Jörres und Prof. Dr. R. Schindler)
,
F. Martens
Charité – Universitätsmedizin Berlin, Campus Virchow Klinikum, Klinik für Nephrologie und internistische Intensivmedizin (komm. Direktoren: Prof. Dr. A. Jörres und Prof. Dr. R. Schindler)
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Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
27. September 2012 (online)

Der Fall

Alarm des Notarztes zum Stichwort „Plötzliche Bewusstlosigkeit“ in ein Mehrfamilienhaus. Den Rettungsdienst hatte ein Hausbewohner alarmiert, der durch die offenstehende Wohnungstür seinen Nachbarn in dessen Flur liegend entdeckt hatte und auf Ansprache und Rütteln bei ihm keine Reaktionen hervorrufen konnte. Das kurz vor dem Notarzt eingetroffene RTW-Team hatte bereits eine pulsoxymetrische Sättigung von 82 % bei Raumluft ermittelt und der kurz danach bestimmte Blutzucker lag bei 164 mg%. Der Blutdruck betrug 120/80 mm Hg bei einer Herzfrequenz von 100/min. Der Notarzt sah einen etwa 50-jährigen Mann, der bis auf ein T-Shirt unbekleidet auf dem Boden lag und unverständliche Laute von sich gab. Er lag in Erbrochenem und hatte sichtbar eingenässt und eingekotet. Beide Pupillen waren mittelweit und reagierten träge auf Licht. Neben dem Patienten lag eine Vorsorgevollmacht, die besagte, dass im Falle einer psychiatrischen Einweisung das Einverständnis eines darin benannten Rechtsanwaltes einzuholen sei. Der auffindende Nachbar berichtete von früheren Suizidversuchen des Patienten.

Während ein Rettungsassistent den Patienten mit Maske und Beutel mit Sauerstoffreservoir assistierend beatmete, legte der Notarzt 2 Venenverweilkanülen. Als alle Utensilien zur endotrachealen Intubation bereitlagen, erfolgte die problemlose orotracheale Intubation nach Gabe von Midazolam, Fentanyl und Succinylcholin. Anschließend transportierte der Notarzt den Patient in die nahegelegene Universitätsklinik.

Im dort angefertigten Kontrastmittel-CT gab es weder Anhaltspunkte für eine intrakranielle Blutung noch eine zerebrale Ischämie. Beide Lungen wiesen fleckige Verdichtungen im Sinne einer Pneumonie auf und beide Pulmonalishauptstämme waren durch umspülte Thromben teilobstruiert. Der abdominelle Befund zeigte keine Auffälligkeiten.

Nach dem CT wurde der Patient auf die Intensivstation transportiert. Dort wurde wegen der vom Nachbarn mitgeteilten früheren Suizidversuche zunächst ein Drogenscreening veranlasst, das qualitativ für Metoclopramid, Barbiturate und Benzodiazepine positiv war, negativ hingegen für Amphetamine, Cannabinoide, Cocainmetabolite und Opiate. Eine weitere Blutprobe wurde zur differenzierteren toxikologischen Untersuchung eingesandt. Darin waren Fentanyl und Midazolam im unteren therapeutischen Bereich (vom Notarzt gegeben) sowie Primidon (4-fach erhöht), Phenobarbital (doppelter therapeutischer Bereich) sowie verschiedene Benzodiazepine jeweils in therapeutischer Konzentration (Diazepam, Nordiazepam, Temazepam, Oxazepam) nachweisbar.

Der weitere Verlauf auf der Intensivstation ergab in den nachfolgenden 3 Tagen bei fehlender Vigilanz und guter Tubustoleranz keine Notwendigkeit, zusätzliche Analgosedation zu verabreichen. Das C-reaktive Protein war mit 300 mg/l (normal < 5) deutlich erhöht. Die im initialen CT sichtbaren fleckigen Verschattungen der Lungen, die als Aspirationspneumonie gedeutet wurden, bildeten sich in wenigen Tagen unter antibiotischer Behandlung mit Tazobactam und Beatmung mit PEEP rasch zurück. Erst am vierten Tag nach Aufnahme erwachte der Patient und konnte bei adäquaten Reaktionen und deutlich gebessertem Gasaustausch schließlich extubiert werden.

Laborchemisch war bereits am Tag nach Aufnahme in die Klinik ein deutlich reduzierter Quickwert mit 30 % aufgefallen, der zunächst als Ausdruck eines Gerinnungsversagens bei Aspirationspneumonie interpretiert worden war. Einen Tag später war der Quick bereits auf 19 % gefallen, alle anderen routinemäßig bestimmten Gerinnungsparameter (PTT, ATIII, Thrombozyten) lagen auffälligerweise im Normalbereich.

Die Nachuntersuchung der ersten Blutprobe durch das toxikologische Labor hinsichtlich Cumarinderivaten („Rattengift/Marcumar®) erbrachte unerwartet tatsächlich eine deutlich erhöhte Konzentration von Phenprocoumon (618 ng/ml), die in den folgenden Tagen über 420 auf 383 ng/ml abfiel. Begleitend normalisierte sich der Quickwert bei täglicher Gabe von Vitamin K langsam.

Fünf Tage nach dem Ereignis konnte der Patient mit dem Psychiater sprechen und berichten, dass er sich von verschiedenen „Bekannten“ Schlaftabletten und Marcumar® besorgt habe, um sich das Leben zu nehme. Sein Vater hätte sich erfolgreich im gleichen Alter umgebracht. Der Psychiater diagnostizierte eine depressive Phase bei manisch-depressiver Psychose und organisierte eine stationäre, psychiatrische Behandlung.

 
  • Literatur

  • 1 Fachinformation Mylepsinum® 2011
  • 2 Matzke GR et al. Acute phenytoin and primidone intoxication. A pharmakokinetic analysis. J Clin Pharmacol 1981; 21: 92-99
  • 3 Fachinformation Luminal®/Luminaletten® 2008
  • 4 Lindberg MC et al. Acute phenobarbital intoxication. Southern Medical J 1992; 85: 803-807
  • 5 Perucca E. Clinically relevant drug interactions with antiepileptic drugs. Br J Clin Pharmacol 2005; 61: 246-255