Psychother Psychosom Med Psychol 2011; 61(8): 339-340
DOI: 10.1055/s-0031-1276893
Editorial
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Schatzsuche – Rückblick auf die vorausschauende Forschung von Ernst-August Dölle

Treasure Hunt – A Retrospect on Ernst-August Dölle’s Prospective ResearchUwe  Koch-Gromus1 , Bernhard  Strauß2
  • 1Institut und Poliklinik für Medizinische Psychologie, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf
  • 2Institut für Psychosoziale Medizin und Psychotherapie, Universitätsklinikum Jena
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Publication Date:
08 August 2011 (online)

Prof. Uwe Koch-Gromus

Prof. Bernhard Strauß

Wenn man näher hinschaut, findet man in unterschiedlichen Wissenschaftsdisziplinen ein bisher wenig beachtetes Phänomen, nämlich dass sich diese eine am ehesten als „Phantomwissenschaftler” zu bezeichnende Gestalt leisten [1].

Diese Persönlichkeiten zeichnen sich durch einige verblüffende Gemeinsamkeiten aus:

Es handelt sich um einen meist vor einigen Jahren verstorbenen Menschen, bezüglich dessen Biografie einige substanzielle Unklarheiten bestehen, z. B. bezüglich des Geburtsortes, des Todesjahres sowie einzelner Stationen des wissenschaftlichen Wirkens. Es handelt sich regelhaft um männliche Personen (eine Ausnahme stellt, in der Literaturwissenschaft, allenfalls die Dichterin Otilie Voß dar, vgl. 1). Der Gedanke der Gleichstellung hat in diesem Bereich also noch keineswegs Platz gegriffen. Die betreffende Figur hat in jedem Falle Großes für ihre wissenschaftliche Disziplin geleistet z. B. durch die Entwicklung bedeutender Theorien, durch erstmalige Konzipierung von bahnbrechenden Untersuchungsmethoden oder durch aufregende Erfindungen. Viele wissenschaftliche Großtaten wurden zu Lebzeiten nicht bekannt bzw. nicht entsprechend gewürdigt und werden erst posthum entdeckt. Manche später als bedeutsam eingeschätzte wissenschaftliche Leistung wurde zu Lebzeiten sehr kontrovers diskutiert und wurde von den Mächtigen der jeweiligen Zeit unterdrückt. Anderes wurde von wissenschaftlichen Kollegen wissentlich oder unbedacht übernommen, ohne die Quelle des geistigen Eigentums angemessen zu zitieren, ein Phänomen, das nicht erst heute die Wissenschaft belastet.

Für den Bereich der psychologischen Wissenschaftsdisziplinen kommt ohne Zweifel Ernst August Dölle die skizzierte Rolle zu. Nach einigermaßen zuverlässigen Quellen lebte Dölle von 1898 bis 1972 (oder sogar etwas länger, vgl. [2]). Schon bezüglich des gelegentlich genannten Geburtsortes Gifhorn (Niedersachsen) gibt es unter den „Dölle-Forschern” Streit. Als wichtige Orte seines Wirkens werden immer wieder die Universitäten Eichstätt und Konstanz genannt [3]. Die inzwischen für Teilbereiche geleistete Aufarbeitung der wissenschaftshistorischen Bedeutung Dölles für die deutsche wie internationale Psychologie lässt die eindrucksvolle Breite seines Wirkens sichtbar werden.

Einen Meilenstein in diesem Bemühen, der Persönlichkeit Dölles gerecht zu werden, stellte der Kongress der Deutschen Gesellschaft für Psychologie in Salzburg 1974 dar. Eine Gruppe seinerzeit die Psychologie dominierender Wissenschaftler unter Federführung von Theo Herrmann legte zwei Jahre nach dem Tod von Ernst August Dölle eine Festschrift unter dem Titel „Dichotomie und Duplizität: Grundlagen psychologischer Erkenntnis. Ernst August Dölle zum Gedächtnis” vor [4]. Sie dokumentiert die Vielfalt und Nachhaltigkeit des wissenschaftlichen Werkes von Dölle und war gleichzeitig die Geburtsstunde einer bis heute andauernden „Dölle-Forschung”.

Anlässlich des 7. Weltkongresses des International College of Psychosomatic Medicine (ICPM) in Hamburg im Jahr 1983 würdigten A. E. Meyer, H. Speidel und andere die seit der Festschrift von Theo Herrmann geleisteten Forschungsergebnisse zum Werk und zum Wirken Dölles im Rahmen des viel beachteten Symposiums „Nonpublishable Psychosomatic Results”. Besonders Dölles geistige Beiträge zu bahnbrechenden psychosomatischen Untersuchungen wie z. B. zur Erfassung von Prävalenz und Inzidenz von psychischen Störungen in einem andorranischen Seengebiet [5] und zur Psychosomatik der Trichotillomanie [6] fesselten die Zuhörer.

Besonders eindrucksvoll aber war Hubert Speidels Recherche zu Ernst-August Dölles Sichtweise der deutschen Psychosomatik [7], die nachdrücklich sichtbar machte, welch kritische Haltung zu Wissenschaft und Gesellschaft Dölle innehatte und wie wichtig es doch ist, die Perspektiven solch kritischer Geister zu berücksichtigen, will man die Stagnation einer Wissenschaftsdisziplin verhindern.

Nach einer Phase von weiteren Jahrzehnten intensiver Dölle-Forschung wurde das Thema unter dem Motto „Schatzsuche – Rückblick auf die vorausschauende Forschung von Ernst-August Dölle” auf dem Deutschen Kongresses für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie im März 2011 in Essen erneut aufgegriffen. Das Symposium zu diesem Thema wurde von den Autoren dieses Editorials geleitet (in einem völlig überfüllten und überhitzten Mini-Seminarraum, was alleine Stoff für neue Abhandlungen über Dölles Bedeutung anregen könnte). Ursprünglich sollte das Symposium Karl Theodor Dölle, Ernst-Augusts Enkel, komoderieren, er konnte aber aufgrund eines Staus am Kamener Kreuz nicht erscheinen.

Wir freuen uns, dass der Thieme Verlag bereit war, die vier in Essen präsentierten Beiträge in der Onlineversion der PPmP zu dokumentieren und widmen diese Beiträge dem großen Dölleforscher Hubert Speidel (nachträglich) zu seinem 77. Geburtstag!

Das „Dölle Special” beginnt mit einem Beitrag von B. Strauß [2], in dem dieser zeigt, wie eine Begegnung Dölles mit John Bowlby die Forschung und die wissenschaftlichen Aktivitäten beider beeinflusste und wie Dölle, dessen Sichtweisen wir dank Hubert Speidel [7] zur Genüge kennen, Entwicklungen in der Wissenschaft der jüngsten Zeit bewertet hätte. „Der Beitrag kommt zu dem Schluss, dass Dölle heute von Entwicklungen in der Wissenschaft und noch mehr in der Gesellschaft wahrscheinlich enttäuscht wäre” [2].

Die Arbeit von Bertram [8] liest sich fast wie eine Spionageroman: „Die Entdeckung einer unveröffentlichten Dissertation in einem Verlagsarchiv führte auf die Spur einer bisher verschollenen Publikation von Ernst August Dölle, in der der Verfasser über die Stimulation eines zerebralen Libidozentrums beim Hund berichtet, lange bevor Olds und Milner ihre Arbeit über die Entdeckung des Belohnungszentrums publizierten. Die Gründe für die Unterdrückung dieser frühen Publikation von Dölle werden untersucht und auf den Versuch zurückgeführt, seine neurobiologische Forschungsarbeiten für geheime mentale Manipulationsexperimente des CIA zu Beginn des Kalten Krieges nutzbar zu machen” [8].

Schmeling-Kludas u. Koch [9] weisen mithilfe der jetzt zur Verfügung stehenden Tagebücher aus dem Jahre 1968 zweifelsfrei nach, „dass Dölle seiner Zeit weit voraus bereits über Nachhaltigkeit und Diversity bzw. Vielgestaltigkeit arbeitete. Als weltweit erster Wissenschaftler verband er beide Konzepte miteinander” [9].

Herzog [10] schließlich zeigt an einer Untersuchung der Bedeutung des Epiphänomenalismus für die Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, „dass Ernst-August Dölle schon früh das Alpha und Omega des Epiphänomenalismus beschrieb und überzeugend zur Anwendung brachte” [10].

Die Arbeiten, die – wie erwähnt – nur in der Online-Ausgabe der PPmP zu lesen sind (ein wenig Exklusivität muss hier schon sein), dokumentieren die Größe eines Forschers, der – wie so viele – droht in Vergessenheit zu geraten. Alle Autoren haben sich verpflichtet, das Erbe Ernst-August Dölles zu bewahren und seine unermesslich wichtigen Beiträge zur Wissenschaft an dieser und anderen Stellen immer wieder ins Gedächtnis zu rufen.

Literatur

  • 1 Zankl H. Irrwitziges aus der Wissenschaft – Vom Leuchtkaninchen bis Dunkelbirnen.. Weinheim: Wiley; 2008
  • 2 Strauß B. Bowlby & Dölle. Diskurse über Feinfühligkeit.  Psychother Psych Med. 2011;  61 DOI: DOI: 10.1055/s-0031-1284364
  • 3 Amelang M, Bartussek D, Stemmler G et al. Differentielle Psychologie und Persönlichkeitsforschung. Kurzbiographie von Ernst-August Dölle.. 6. Auflage. Stuttgart: Kohlhammer; 2006: 520
  • 4 Herrmann T. Dichotomie und Duplizität: Grundlagen psychologischer Erkenntnis. Ernst-August Dölle zum Gedächtnis.. Bern: Huber; 1974
  • 5 Bräutigam W, Rad M von. Prevalence and incidence of psychic disorders and the provision of psychotherapeutic care: an epidemiological field study in the Andorran Lake District 1950–1980.  Psychother Psychosom. 1984;  42 113-118
  • 6 Meyer A E, Haaag A. Psychosomatics of Trichotillomania and related states or disorders.  Psychother Psychosom. 1984;  43 119-123
  • 7 Speidel H. Ernst August Dölle’s views on German psychosomatics.  Psychother Psychosom. 1984;  42 106-112
  • 8 Bertram W. Neurousurpation. Die Expropriation und Supprimierung von Dölles neurobiologischer Pionierarbeit.  Psychother Psych Med. 2011;  61 DOI: DOI: 10.1055/s-0031-1284359
  • 9 Schmeling-Kludas C, Koch-Gromus U. Vielgestaltige Nachhaltigkeit-Sustainable Diversity. Frühe wissenschaftliche Visionen von Ernst August Dölle.  Psychother Psych Med. 2011;  61 DOI: DOI: 10.1055/s-0031-1284413
  • 10 Herzog W. Integriert versorgende Forschung des Epiphänomens (IVF-E) – Paradigmenwechsel oder Dölles Wein in neuen Schläuchen?.  Psychother Psych Med. 2011;  61 DOI: DOI: 10.1055/s-0031-1284345

Prof. Dr. phil. habil. Bernhard Strauß

Institut für Psychosoziale Medizin und Psychotherapie, Universitätsklinikum Jena

Stoystraße 3

07740 Jena

Email: bernhard.strauss@med.uni-jena.de