Zeitschrift für Komplementärmedizin 2011; 3(1): 1
DOI: 10.1055/s-0030-1270795
zkm | Editorial

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Seien Sie froh, wenn Sie mit dieser Wirbelsäule nicht bald im Rollstuhl sitzen!

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Publication Date:
28 February 2011 (online)

Ich weiß nicht, ob dies der schlimmste Ausspruch war, den mir ein Patient übermittelt hat, oder eher dieser: „Mit diesem Gleitwirbel sollten Sie keine Kinder kriegen“. Zugrunde lag bei der jungen Frau eine diskrete Spondylolisthesis, die nicht einmal in Funktionsaufnahmen objektiviert wurde und deren Beschwerden vorwiegend myofaszial bedingt waren.

Es ist vom Nocebo die Rede, dem dunklen Zwilling des Placebos. Nocebo ist, vereinfacht gesagt, der Schaden, der durch medizinische Maßnahmen angerichtet wird.

Aktuelle Meldungen bestätigen die Folgen unkritischer Medikamentenverordnung und Selbstmedikation: Die Einnahme von NSAR verdoppelt das Risiko, an einer Magenblutung zu sterben [4], seit Einführung von Oxycodon hat sich in Kanada die Todesrate durch starke Opioide verdoppelt [2]. Aktuell gibt es Hinweise, dass die als so harmlos erachtete Einnahme von 100 mg Acetylsalicylsäure zu schleichenden Hirnblutungen nach Minimaltrauma führen kann. Aber auch Psycho- und Physiotherapeut können schaden, durch repetitive Fixierung auf Kindheitstraumata oder Antrainieren pathologischer Bewegungsmuster, um die Wirbelsäule zu schonen.

Aber wie sehr können o. g. ärztliche Worte schaden? Mit den beiden Patienten war unsere Arbeit schwierig, weil die (angeblichen) Kommentare der Kollegen Angst und negative Krankheitseinstellungen ausgelöst haben, die nur mit viel Information, Vertrauen und neuer Bewegungs- und Körpererfahrung zu überwinden waren. Wir kämpften gegen die hervorgerufenen negativen Einstellungen.

Erwartungen und Einstellungen, die im Frontalhirn gespeichert werden und sich in spezifischen körperlichen Reaktionen niederschlagen. Die zugehörige Neurobiologie ist weitgehend bekannt. Negative verbale Suggestionen induzieren antizipatorische Ängste vor dem drohenden Schmerzanstieg. Diese führen wiederum zu einer Aktivierung von Cholecystokinin, welches die Nozizeption fazilitiert [1]. Worte können Schmerzen chronifizieren.

Diese fatale Reaktion erleben wir täglich bei Patienten mit Wirbelsäulenbeschwerden. Es reicht der Hinweis auf die kaputte Wirbelsäule, die Bandscheibe oder jetzt häufiger den Gleitwirbel, um die Heilungschancen deutlich zu verschlechtern. Dazu ein Stirnrunzeln im weißen Kittel und der rote Pfeil auf dem CT/MRT. Perfekt ist die Chronifizierung, oder die Bereitschaft, einer fraglich wirksamen Intervention zuzustimmen. Angemessen klinisch untersucht wird der Patient dabei in den wenigsten Fällen. Viele Patienten mit stark degenerierten Wirbelsäulen werden mit konservativen Maßnahmen wieder schmerzfrei oder schmerzarm. Schwierig wird es, wenn sie auf Defizite fixiert wurden.

Auf breiter Basis werden Ängste durch Screening-Untersuchungen ausgelöst. Von 10 auffälligen Mammografien stellt sich nur eine als Brustkrebs heraus. Die übrigen Frauen haben teilweise wochenlang Angst vor Krebs und Tod bis zum Nachweis der Gutartigkeit. Selbst dann hat ein Teil dieser Frauen noch lange Zeit Angst und neigt zu Depressionen, wie Gerd Gigerenzer, Direktor am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung feststellt [3]. Ähnliches gilt für Eltern, die Opfer einer falsch positiven Frühgeborenendiagnostik geworden sind.

Wir brauchen Diagnostik, Vorsorge, Technik, Medikamente und Offenheit gegenüber unseren Patienten, aber wenn wir nicht behutsam damit umgehen, schaden wir manchmal mehr, als wir nützen.

PD Dr. Dominik Irnich, München

  • 1 Benedetti F et al. When words are painful.  Neuroscience. 2007;  147 260-271
  • 2 Dhalla I A et al. Prescribing of opioid analgesics and related mortality before and after the introduction of long-acting oxycodone.  CMAJ. 2009;  181 891-986
  • 3 Maier Y. Nocebo – Der „dunkle Zwilling“ des Placebo. (Sendung vom 07.12.2010). Im Internet: http://www.br-online.de/podcast
  • 4 Straube S et al. Mortality with upper gastrointestinal bleeding and perforation.  BMC Gastroenterol. 2009;  9 41
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