PiD - Psychotherapie im Dialog 2010; 11(4): 289
DOI: 10.1055/s-0030-1265911
Editorial

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Leitlinien statt Leitkultur

Maria  Borcsa, Yesim  Erim
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Publication Date:
02 December 2010 (online)

Viel wurde gestritten im vergehenden Jahr: Menschen als Intelligenz-Gen-Träger und wandernde Erdenbürger scheinen dabei besonderes Interesse geweckt zu haben. Es ist bekannt, dass Exotik insbesondere eine Frage der Distanz ist.

Welches Menschenbild ist angemessen für das 21. Jahrhundert? Eine fundamentale Frage, so scheint es – trifft es die Reichweite des Gegenstandes, ob sich die Sonne um die Erde dreht oder umgekehrt? Ist der Mensch fremd, fast überall oder tut er so als sei die ethnische oder nationale Herkunft die Leitdifferenz?

Auch unsere Epoche scheint in grundsätzlichen Fragen Extrarunden zu brauchen. Dieses Heft soll ein Reisebegleiter und Diskussionsanreger sein – und nebenbei jedem psychotherapeutisch arbeitenden Menschen bewusst machen, dass Vielfalt nicht nur als Diversity-Begriff in Managementdiskursen inzwischen bare Münze ist.

Die Rubrik „Standpunkte” wandert vom Allgemeinen zum Besonderen: Ausgehend von einer gesundheitspsychologisch orientierten Annäherung an das Thema (Maria Borcsa), einem Überblick über den Stand der Diskussion im Kontext Psychotherapie (Renate Schepker) wird hingeführt zu Anforderungen an Leitlinien zur interkulturellen psychotherapeutischen Versorgung (Yesim Erim und MitarbeiterInnen).

Auch bei den „Richtungen und Verfahren” wird sichtbar, wie wertvoll Verschiedenheit sein kann: Birsen Kahraman und Barbara Abdallah-Steinkopff richten ihren Fokus auf eine kultursensible Therapiebeziehung: das Hinterfragen von bisherigen Normen und Werten – nicht nur aufseiten des Klienten, sondern auch beim Therapeuten! – führt zu neuen Lernerfahrungen auf beiden Seiten. Fatih Güc geht der psychodynamisch bedeutsamen Frage „Was denken die Anderen von mir?” in seiner Verbindung zu Schuld-Scham-Affekten in der Behandlung von Migranten aus islamischen Ländern nach und setzt diese in Beziehung zur Dissoziation als Grundbaustein der Psyche. Cornelia Oestereich und Tom Hegemann vertreten den systemischen Zugang: Haltungen, Setting und systemische Methoden in der therapeutischen Arbeit mit MigrantInnen werden beschrieben; die Bedeutung der Ressourcen- und Lösungsorientierung für traumadeterminierte Systeme stellt dabei eine thematische Vertiefung dar.

Haci Halil Uslucan richtet unser Augenmerk auf das Themenfeld Kindheit, Familie und Migration, das für den Beitrag von Dietmar R. Czycholl, Suchttherapie mit UdSSR- und GUS-stämmigen Jugendlichen und jungen Erwachsenen, eine wertvolle Basis bildet. Alla Shabanova schreibt zu Psychosomatischer Rehabilitation auf Russisch, und zwar aus der Sicht einer muttersprachlichen Therapeutin. Die Bedeutung der Muttersprache wird auch in der Rubrik „Forschung aus der Praxis / Forschung für die Praxis” von Yesim Erim und Sevgi Kahraman in ihrem Beitrag zur Gruppenpsychotherapie mit türkischen Migrantinnen aufgegriffen. Ljiljana Joksimovic untersucht die Möglichkeiten und Grenzen einer spezifischen Öffnung der Psychotherapeutischen Institutsambulanzen für die Behandlung von Migranten und Flüchtlingen.

Frauen und Männer „unter sich” – und muttersprachliche im Vergleich zu deutschsprachigen Angeboten: „Ich habe keine Lust meinem deutschen Therapeuten zu erklären, dass ich kein Pascha bin, nur weil ich aus der Türkei komme” ist ein Kernsatz aus dem Interview von Ali Kemal Gün und Mehmet Toker mit Wolfgang Senf, das als I-Tüpfelchen den thematischen Bereich des Heftes beschließt. Wie immer rahmen DialogBooks und DialogLinks die Beiträge und laden zum weiterführenden Schmökern auf traditionelle und neuzeitliche Weise ein.

Nun, mit diesem Kompass ausgerüstet, so hoffen wir, kann man sich in die Weiten der Thematik wagen.

Gute Reise!

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