B&G Bewegungstherapie und Gesundheitssport 2010; 26(5): 208-222
DOI: 10.1055/s-0030-1262566
WISSENSCHAFT

© Hippokrates Verlag in MVS Medizinverlage Stuttgart GmbH & Co. KG

Modell einer Qualitätssystematik für die medizinische und berufliche Rehabilitation (MBR)[*] , [*]

A. Baldus1 , G. Huber2 , K. Pfeifer3 , K. Schüle4
  • 1DVGS
  • 2ISSW der Universität Heidelberg
  • 3Institut für Sport und Sportwissenschaft, Erlangen
  • 4Institut für Bewegungstherapie und bewegungsorientierte Prävention und Rehabilitation, Köln
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Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
26. Oktober 2010 (online)

Begründung einer Qualitätssystematik MBR

Rehabilitationswissenschaftliche Aspekte

Die medizinisch und beruflich orientierte Rehabilitation (MBR) ist Auftrag der Kostenträger zur Gesundheitsleistung und der Gesundheitsfürsorge. Der gesetzlich begründete Versorgungsauftrag verfolgt insbesondere einen erwerbsspezifischen Ansatz (Rentenversicherung und Unfallversicherung). Die MBR umfasst derzeit schwerpunktmäßig indikationsspezifische Ist-Behandlungen. Kriterien einer Soll-Vorgabe als Grundlage einer zielorientierten Rehabilitation fehlen dagegen häufig. So wird bei der Zielorientierung rehabilitativer Prozesse (insbesondere zur Teilhabe am Arbeitsplatz bzw. der beruflich orientierten Rehabilitation) immer noch zu wenig die Beteiligungsmöglichkeit des Leistungsempfängers in die rehabilitativen Prozesse einbezogen. Die Gesundheitskomponenten des Rehabilitanden auf der Grundlage der ICF-Kriterien beeinflussen jedoch die Erreichbarkeit des Rehabilitationszieles wesentlich. 

Eine solche patienten- bzw. rehabilitandenorientierte Erstellung von Standards für Behandlungspfade (Leitlinien) erfordert die Weiterführung der derzeit vorwiegend indikationsspezifischen (impairmentspezifischen) Systematisierungen und Standards [18] hin zu individuellen Behandlungspfaden unter Einbeziehung der Informationen über die Funktionsfähigkeit der zu behandelnden Menschen. Die Evaluation in der MBR besteht zudem häufig aus einer Perspektive, in der Assessment-Verfahren oft zum Selbstzweck werden [17]. Über eine wissenschaftliche Erhebung von (indikationsspezifischen) Einzelaspekten der MBR hinaus bedarf es an dieser Stelle vielmehr einer kennzahlenorientierten Weiterentwicklung und Evaluation von leitlinienorientierten, individuellen Behandlungspfaden als Entscheidungshilfe für die Zuweisung zu optimalen und evidenzbasierten Interventionen (vgl. dazu auch [16]). 

Gesetzliche Vorgaben

Die demografische Entwicklung sowie der damit verbundene Panoramawandel der Krankheiten erfordern eine qualitative Selektion der Leistungserbringung bei gleichzeitigen Wirtschaftlichkeitsanforderungen (§ 2 SGB V, § 17 Abs. 2 SGB IX). 

Die bestehende Sozialgesetzgebung verpflichtet einerseits Kostenträger zur Erstellung von Qualitätssicherungskriterien für Leistungen der medizinischen und beruflichen Rehabilitation (§ 137 f SGB V, § 20 SGB IX). Die gesetzliche Vorgabe fordert andererseits aber auch die Einrichtung interner Qualitätsmanagementsysteme für Leistungserbringer (§§ 135–137 SGB V, § 20 SGB IX). Derzeit bestehen Qualitätssicherungskriterien der Gesetzlichen Krankenversicherungen, Rentenversicherungen sowie Unfallversicherungsträger aus ausgewählten punktuellen Indikatoren (Tracer) zum Vergleich der Ergebnisse einer Leistungsart der Vertragseinrichtungen (Ranking). 

Leistungserbringer haben bei der Einführung interner Qualitätssysteme zurzeit die Auswahl aus einer Vielzahl von Qualitätsmanagementmodellen (DIN EN ISO 9001: 2000, EFQM, DEGEMED, KTQ o. Ä.) – ohne Kenntnis darüber, welche und wie diese Modelle die Qualitätssicherungskriterien der (federführenden) Kostenträger berücksichtigen. Qualitätssicherung und Qualitätsmanagement werden noch unzureichend miteinander verzahnt. Das hier vorgestellte Modell einer Qualitätssystematik für die MBR versucht – strukturiert und exemplarisch –, den dargelegten rehawissenschaftlichen Aspekten und gesetzlichen Vorgaben gerecht zu werden. 

Das vorzustellende Modell sollte geeignet sein zur systematischen Erfassung 

  • der Strukturqualität einer Versorgung in der MBR,

  • der Prozessqualität (Kern- und Nebenprozesse) der MBR,

  • der Ergebnisqualität von Interventionen in der MBR.

Die Qualitätssystematik bezieht schwerpunktmäßig die Gesundheitskomponenten des Rehabilitanden ein (Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit [ICF]). Dieses ICF-orientierte Qualitätsmodell verbindet zusätzlich die gesetzlichen Vorgaben für Kostenträger zur Qualitätssicherung (Kriterienerstellung und deren Überprüfung) mit denen für Leistungserbringer zur Einführung eines internen Qualitätsmanagementsystems. 

Die Autoren haben sich an dieser Stelle für die Qualitätssystematik der DIN EN ISO 9001:2000 entschieden, da diese weltweit anerkannt ist (z. B. für international agierende Einrichtungsbetreiber) und alle Standards umfasst, die für die Qualität eines rehabilitativen Prozesses notwendig sind. 

Ökonomische Anforderungen

Neben rehawissenschaftlichen Aspekten und gesetzlichen Vorgaben ist auch die Betrachtung ökonomischer Anforderungen notwendig. Eine an der Erlangung oder Erhaltung der Erwerbsfähigkeit ausgerichtete MBR folgt weitestgehend den Anforderungen nach Wirtschaftlichkeit im Zuge der Kostendämpfung im Gesundheitswesen. Neben den Aspekten der Ausgabensenkung bei Einnahmenbegrenzung (Diagnosis related groups) steht bei individualisierten Behandlungspfaden die Kostensteuerung im Gesundheitswesen durch die Vermeidung und Reduktion von Folgekosten durch Über-, Unter- und Fehlversorgung im Gesundheitswesen im Vordergrund, die zu nicht stereotypen Verordnungen rehabilitativer Leistungen (EDV-gestützte Instrumentarien für die ärztliche Verordnung und Zuweisung) führen könnte. 

Die Forderung, nach der für „die richtigen Patienten, zum richtigen Zeitpunkt“ Behandlungsmodule zur Verfügung stehen müssen (indikationsspezifische Standards [17]), bedarf der Ergänzung: „[…] die nur für sie richtigen Behandlungsmodule […]“ (= ICF-orientierte, mehrdimensionale Standards, in der trotz gleicher Indikation unterschiedliche Beeinträchtigung und daher unterschiedliche Behandlungen für 2 Menschen die Folge sein können). 

1 Orientiert an der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) sowie den Qualitätsnormen der DIN EN ISO 9001: 2000.

2 Dieser Beitrag wurde entnommen aus: Deimel H, Huber G, Schüle K, Hrsg. Neue aktive Wege in Prävention und Rehabilitation. Köln: Deutscher Ärzte-Verlag; 2007; 55–85. Mit freundlicher Genehmigung des Deutschen Ärzte-Verlags, Köln.

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  • 18 Müller-Fahrnow W, Hansmeier T, Karoff M Hrsg. Wissenschaftliche Grundlagen der medizinisch-beruflich orientierten Rehabilitation. Lengerich: Pabst Science Publishers; 2006
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1 Orientiert an der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) sowie den Qualitätsnormen der DIN EN ISO 9001: 2000.

2 Dieser Beitrag wurde entnommen aus: Deimel H, Huber G, Schüle K, Hrsg. Neue aktive Wege in Prävention und Rehabilitation. Köln: Deutscher Ärzte-Verlag; 2007; 55–85. Mit freundlicher Genehmigung des Deutschen Ärzte-Verlags, Köln.

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