Gesundheitswesen 2009; 71(10): 680-681
DOI: 10.1055/s-0029-1241194
Kommentar

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Neue Influenza A/H1N1 2009 – Anmerkungen und erste Schlussfolgerungen

Influenza A/H1N1 2009 – Some Comments and First ConclusionsG. F. Kerscher
Further Information

Publication History

Publication Date:
02 November 2009 (online)

Im April 2009 wurde erstmals aus Mexiko von Erkrankungen durch ein neues Influenzavirus berichtet, das in der Folge als Shiftvariante A/H1N1 2009 identifiziert wurde. Zwar hat sich das neue Virus seither rasch weltweit verbreitet, die neue Influenza verläuft aber insgesamt nach wie vor moderat.

In Deutschland konnte die Verbreitung dank eines konsequenten und zugleich der jeweiligen epidemiologischen Lage angepassten Fallmanagements durch den Öffentlichen Gesundheitsdienst (ÖGD) bislang erfolgreich verzögert werden; ein infektions epidemiologischer wie volkswirtschaftlicher Gewinn. Bislang sind hierzulande rund 20 000 Erkrankungsfälle gemeldet worden. Die Erkrankungen verliefen bei Pa­tienten ohne bestimmte Grunderkrankungen zumeist recht mild.

Im Vergleich dazu: In der Grippe-Saison 2008/2009 erkrankten in Deutschland rund 4,23 Mio. Personen (Exzess-Konsultationen in Arztpraxen); nur geringfügig weniger als etwa in der Erkrankungswelle der Saison 2004/2005, in der auch 22 000–32 000 grippebedingte Krankenhausein­weisun­gen berichtet wurden [1]. Saisonale Influenzawellen führten in den Jahren 1990–2000 in Deutschland zu jährlich etwa 7 000–14 000 zusätzlichen Todesfällen (Übersterblichkeit). Diese Zahlen wurden aber bei außergewöhnlich heftiger Influenza-Aktivität wie z. B. 1995/1996 mit etwa 32 000 auch schon deutlich überschritten [2].

Die Fallzahlen an neuer Influenza stiegen und steigen erwartungsgemäß und es werden in der kommenden Grippesaison auch hier vermehrt schwerere Krankheitsverläufe zu erwarten sein. Der weitere Verlauf im kommenden Winter ist dabei nicht eindeutig vorhersehbar. In wieweit wird das Virus H1N1 die saisonalen Viren verdrängen? Wird sich das Virus H1N1 nach seiner Rückkehr von der Südhalbkugel noch verändern? Sind Driftmutationen oder ist gar eine weitere Shiftvariante zu erwarten? Unterschiedlichste Meinungen prägen die öffentliche Diskussion und liefern ein allzu beredtes Beispiel zum Thema Risikokommunikation. Angesichts der Ungewissheiten sind weiterhin höchste Wachsamkeit und rasche und flexible Reaktionsfähigkeit gefordert. Die Gefahren liegen in der Zukunft. In der Vorbereitung sind aber Entscheidungen jetzt erforderlich, trotz der Ungewissheiten. Entscheidungsträger haben damit verantwortungsvoll umzugehen [3].

Aus den Ereignissen haben wir fortlaufend zu lernen und Konsequenzen zu ziehen, um für eine mögliche künftige Situation einer raschen Ausbreitung einer schwer verlaufenden Erkrankung besser gerüstet zu sein. Einige Erkenntnisse lassen schon jetzt erste Schlussfolgerungen zu.

Angesichts der weiter fortschreitenden Globalisierung und der außerordentlichen Geschwindigkeit der Verbreitung von Erregern über den internationalen Flugverkehr muss die Surveillance weiter intensiviert werden. Erforderlich sind, wie auch von der 82. Gesundheitsmi­nis­terkonferenz (GMK) gefordert, tatsächlich nutzbare, aussagefähige aktuelle Erreichbarkeitsdaten der Flugpassagiere für infektionshygienische Ermittlungen (contact-tracing) 4. Wie ebenso von der 82. GMK gefordert, sollte die Pandemiephaseneinteilung der WHO, die derzeit im Grunde nur eine Deskription der geo­grafischen Verbreitung eines Erregers dars­tellt, geändert oder um eine Bewertung des Gefährdungspotenzials ergänzt werden; denn vor allem davon hängen Maßnahmen des konkreten Infektionsschutzes ab. Ein Automatismus an Maßnahmen bis hin zu Massenimpfungen allein wegen der Ausbreitung eines Erregers ist fragwürdig. Die internationalen, nationalen und regionalen Programme und Pandemiepläne sind insoweit hinsichtlich ihrer Kopplung an die WHO-Warnphasen zu überprüfen. Es bedarf dringend größerer Transparenz bei der Entwicklung der Programme und der daraus abgeleiteten Maßnahmen, z. B. einer Klarstellung der Form der Beteiligung der Pharmazeutischen Hersteller an Entscheidungen der WHO etwa über medikamentöse Strategien und Impfstrategien. Angestrebt werden sollten raschere, zielführende Verfahren der internationalen Abstimmungen insbesondere in der Europäischen Union 5, die nicht zuletzt zur Förderung der Solidarität auch transparenter erfolgen sollten; z. B. eine gegenseitige offene und frühzeitige Information über Bevorratungen von Arzneimitteln einschließlich Impfstoffen, zumal dies die Position aller in Verhandlungen mit den Pharmazeutischen Herstellern stärken sollte. Die Abhängigkeit inter- oder auch nationaler Sicherstellung des Gesundheitsschutzes von einem weitestgehend intransparenten globalisierten Arzneimittelmarkt ist letztlich inakzeptabel. Ggf. sind hier ordnungspolitische Maßnahmen – etwa i. S. eines Gesundheitssicherstellungsgesetzes – zu ergreifen. Die 82. GMK hat den Bund aufgefordert, entsprechende Möglichkeiten zu prüfen und zu berichten. Weiter sollten die Kompetenzen von Bund und Ländern sowie auch die innerhalb des gegliederten Gesundheitssystems überprüft werden. Allein die Diskussionen um die zur Kos­tentragung der Impfung gegen die neue Influenza erlassene Rechtsverordnung (ISchGKVLV vom19.08.2009) zeigen, dass hier – bei allen Scheingefechten – auch tatsächlicher Klärungsbedarf besteht. Impfungen sind als von den Krankenkassen zu finanzierende Aufgabe grundsätzlich dem System der gesundheitlichen Regelversorgung zugewiesen. Der Öffentliche Gesundheitsdienst (ÖGD) ergänzt das Angebot erfolgreich subsidiär. Angesichts des Verlaufs der neuen Influenza ist ein Abgehen von dieser Regel jedenfalls fachlich nicht zu begründen. Wir erleben glücklicherweise nicht eine einem Katastrophenszenario entsprechende Pandemie, wie sie angesichts der Pathogenität des Vogelgrippevirus H5N1 befürchtet worden war und die Massenimpfungen durch den ÖGD rechtfertigen könnte. Wir haben den Pandemieplänen entsprechend zwar für ein solches anderes Szenario grundsätzlich gerüstet zu sein. Wenn ein solches Szenario aber nicht besteht – und das ist unverändert der Fall – ist es nicht nur unvernünftig, sondern auch unverhältnismäßig, von der genannten Regelversorgung abzuweichen. Die gewünschte Akzeptanz der Impfung und das Ansehen des ÖGD werden damit nicht gemehrt. Der Öffentliche Gesundheitsdienst (ÖGD) muss unabhängig davon nachhaltig ausreichend ausgestattet sein. Die erforderliche Krisenreaktionsfähigkeit, auf welche die Gesundheitsministerkonferenz hinweist 6, benötigt entsprechende Inves­titionen und rechtfertigt erforderliche Vorhaltekosten. Bei den Feuerwehren oder der Polizei gilt das ganz selbstverständlich. Die Politik ist dabei gefordert. Dr. Margaret Chan, die Generaldirektorin der Weltgesundheitsorganisation (WHO), stellte bei der Vollversammlung der WHO in Genf am 22. Mai 2009 fest, dass es von der Stärke des Gesundheitssystems abhängt, wie sehr die Öffentliche Gesundheit von der neuen Influenza A/H1N1 2009 betroffen ist: „Power of public health lies in strong health systems” 7. Das gilt gerade auch für den ÖGD.

Verläuft die neue Influenza, ausgelöst durch das Influenza A Virus H1N1 2009, weiterhin moderat, dann sollte die jetzige pandemische Situation gleichsam als Großübung verstanden werden.

Literatur

Korrespondenzadresse

Prof. Dr. G. F. Kerscher

c/o: Bayerisches Staatsministerium für Umwelt und Gesundheit

Abteilung Gesundheit

Rosenkavalierplatz 2

81925 München

Email: guenther.f.kerscher@stmug.bayern.de

    >