Zeitschrift für Komplementärmedizin 2010; 2(1): 1
DOI: 10.1055/s-0029-1240824
zkm | Editorial

© Hippokrates Verlag in MVS Medizinverlage Stuttgart GmbH & Co. KG

Der Unterleib: Eine schamhafte Region?

Wolfram Stör
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Publication Date:
27 January 2010 (online)

Geht es Ihnen manchmal genauso? Plötzlich wird man gewahr, dass man von einem alten Bekannten schon lange nichts mehr gehört hat. Vielleicht ein Studienfreund, der sich in einer anderen Stadt, in einem anderen Land neu eingerichtet hat. Vielleicht ein Kollege, mit dem man früher oft gemeinsame Patienten hatte – aber jetzt? Und es wird ein kleiner Verlust offenkundig. Genauso kann es einem mit Begriffen gehen: Nicht nur kommen in unserer Sprache jedes Jahr viele neue Begriffe – nicht nur Anglizismen – hinzu oder werden uns von Medien anerzogen. Es verschwinden auch manche guten Begriffe, ohne dass man es zunächst merkt. Ein solcher Begriff scheint mir die Scham zu sein. Wer wollte einem Kind heute noch zurufen: „Du sollst dich schämen!“ Allenfalls begegnet uns das Wort noch in der Aufgeregtheit der ökonomischen Diskussionen des letzten Jahres (schamhaft verdeckt) als „Schamlosigkeit“.

Dabei ist die Scham ein tiefes menschliches Gefühl, das mit der Würde des Menschen eng zusammenhängt. Der Psychiater Klaus Dörner hat in seinem wunderbaren Lehrbuch der ärztlichen Grundhaltung darauf hingewiesen: „Es beschämt, dass die Scham als vielleicht fundamentalste Dimension des Leibgefühls jeder Arzt-/Patient-Beziehung in der medizinischen Literatur bisher weitgehend ausgespart war […] Dies umso mehr, wenn man das breite Spektrum der Scham bedenkt: von der Erfahrung, dass die Organe ihren Dienst verweigern, über das Abhängigkeitserlebnis und den Verlust der Selbstbeherrschung bis zur Entblößung, Offenbarung der eigenen Nacktheit und anderen Peinlichkeiten. All dies hängt mit der Würde des Menschen zusammen, die […] in der Scham […] ihren Ausdruck findet“ [1].

Wie wichtig ist es da für den Arzt, sich in jeder Begegnung mit einem Patienten dieses mal mehr, mal minder, jedoch immer vorhandenen Gefühls des Patienten bewusst zu sein.

In diesem Heft beschäftigen wir uns mit der Körperregion, auf die sich das Wort im medizinischen Gebrauch bezieht: den Unterleib. Da ist es recht, zuerst über die eigene Schamhaftigkeit zu reflektieren und den Umgang mit dem, was wir selbst schamhaft verschweigen, zumindest nicht unbedacht ausplaudern wollen. Der Aufsatz von S. Zettl zeigt uns, wie wir Klarheit beim Patienten nur schaffen können, wenn wir selbst mit uns im Reinen sind – das gilt natürlich besonders für das hier als Beispiel gewählte Gespräch über sexuelles Erleben und Verhalten. Anschaulich und vergnüglich und dabei höchst informativ und praxisbezogen zeigt uns P. Raba mit leichter Feder, wie sich Potenzstörungen bei Mann und Frau homöopathisch behandeln lassen. Wenn die Chinesische Medizin die Sexualität so beharrlich dem Funktionskreis Niere zuordnet, so hat sie dafür gute und nachvollziehbare Gründe: lesen Sie dazu den Fachbeitrag von W. Stör. Ganz praktisch wird es wieder, wenn wir vor der Frage stehen, ob wir unseren jungen Patientinnen die Impfung gegen HPV empfehlen sollen. Wir haben für Sie im Beitrag von W. Behrendt und I. Mühlhauser Pro und Kontra gegenübergestellt.

Und noch 2 große und häufige Krankheitsbilder, die die Patienten subjektiv meist sehr belasten, haben wir thematisiert: Zum einen die Erkrankungen der Prostata, wesentlich die benigne Prostatahypertrophie, denen sich die Beiträge von J. Sökeland und E. Wolkenstein widmen. Dazu ein besonders innovativer Beitrag von U. Michaelis zum Beckenbodentraining nach Prostataoperation. Hier übrigens der Hinweis auf die sehr sinnvolle Entscheidungshilfe der AOK (nicht nur für Patienten): Soll man einen PSA-Test überhaupt durchführen? Informationen findet man unter www.aok.de/bund/psa/content/.

Das andere große Thema sind natürlich immer die Harnwegsinfekte, die mehrheitlich Frauen betreffen. Das Arzneimittelbild von Solidago und die Behandlungsstrategien von 4 Fachleuten geben hier wichtige Impulse für die Behandlung eines Krankheitsbilds, das, wenn chronisch, schon manche Patientin zur Verzweifelung getrieben hat.

Wer könnte kompetenter über die Verbindung von Gynäkologie und Naturheilverfahren Auskunft geben als Frau Prof. Ingrid Gerhard, die uns im Interview aus der überbordend reichen Erfahrung ihres Ärztinnen- und Forscherinnenlebens geistreich erzählt und dabei viele bedenkenswerte und ganz praktische Hinweise für die Zukunft gibt.

Ich bin sicher, nach der Lektüre dieses Heftes werden Sie die Erkrankungen des Unterleibs noch optimistischer, beherzter und erfolgreicher behandeln können!

Ihr
Dr. med. Wolfram Stör

  • 1 Dörner K. Der gute Arzt – Lehrbuch der ärztlichen Grundhaltung. Stuttgart; Schattauer 2001