Rehabilitation (Stuttg) 2009; 48(4): 244-246
DOI: 10.1055/s-0029-1233483
Aus der DVfR

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Die Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen – Eine erste Stellungnahme der Deutschen Vereinigung für Rehabilitation

The United Nations Disability Rights Convention – A First Opinion by the German Society for Rehabilitation, DVfRDeutsche Vereinigung für Rehabilitation e. V.1
  • Deutsche Vereinigung für Rehabilitation e. V. (DVfR), Heidelberg
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Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
17. August 2009 (online)

Pflicht zur inklusiven Politik

Die Deutsche Vereinigung für Rehabilitation (DVfR) hat den Prozess der Entstehung des Übereinkommens der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (Behindertenrechtskonvention – BRK)[1] aktiv begleitet und begrüßt ihre Ratifizierung. Die BRK ist seit dem 26. März 2009 geltendes Recht und verpflichtet die Bundesrepublik Deutschland als unterzeichnenden Vertragsstaat auf die weitreichenden Ziele einer inklusiven Politik für chronisch kranke, behinderte und pflegebedürftige Menschen. Die DVfR und ihre Mitglieder fassen die BRK auch als Chance und Herausforderung für ihre eigene Weiterentwicklung auf.

Menschen mit Behinderung volle Bürgerrechte zusichern

Die DVfR befürwortet zunächst die Ausführungen in der Präambel der BRK. Von besonderer Bedeutung ist hier (Buchstabe m) die Anerkennung des „wertvollen Beitrags”, den „Menschen mit Behinderungen zum allgemeinen Wohl und zur Vielfalt ihrer Gemeinschaften leisten und leisten können …”. Aus dieser Formulierung und aus der Präambel insgesamt wird die Intention der BRK, behinderten Menschen volle Bürgerrechte zuzusichern, deutlich. Erkennbar wird insoweit auch die Abkehr vom Prinzip der Fürsorge und von einem defizitorientierten Menschenbild.

Solidarische und barrierefreie Gesellschaft jetzt gestalten

In den für den Gesamtbereich der BRK geltenden allgemeinen Grundsätzen (Artikel 3) werden die Würde des behinderten Menschen, seine volle und wirksame Teilhabe sowie die Gewährleistung von Chancengleichheit betont. Aufbauend auf diesen Grundsätzen durchzieht der Gedanke der Selbstbestimmung und einer autonomen Lebensgestaltung alle Regelungen der BRK. Sie formuliert insgesamt höchste Anforderungen an eine solidarische und barrierefreie Gesellschaft, die Fremdbestimmung und Ausgliederungstendenzen zurückweist. Die hieraus resultierende Forderung an alle Vertragsstaaten, die genannten Ziele möglichst rasch und umfassend umzusetzen, kann in ihrer sozial- und gesellschaftspolitischen Bedeutung nicht hoch genug eingeschätzt werden.

Paradigmenwechsel ist eingeleitet

Die DVfR anerkennt, dass in Deutschland bereits – beginnend mit der Aufnahme des Diskriminierungsverbots für behinderte Menschen in Artikel 3 des Grundgesetzes im Jahre 1994 – wichtige Schritte erfolgt sind, um die vollständige Integration behinderter Menschen zu erreichen. So wurde auf bundesgesetzlicher Ebene mit dem SGB IX und dem Behindertengleichstellungsgesetz der Paradigmenwechsel für die Teilhabe und Selbstbestimmung behinderter Menschen eingeleitet.

Anspruch und Wirklichkeit fallen auseinander

Dennoch bedarf es weiterer durchgreifender Anstrengungen, um die Ziele der BRK in Deutschland mit Leben zu erfüllen. Zunächst muss darauf hingewiesen werden, dass die genannten Gesetze in wichtigen Bereichen nicht bzw. nicht ausreichend umgesetzt sind. Damit fallen Anspruch und Wirklichkeit in der Teilhabepolitik für behinderte Menschen teilweise weit auseinander. Insoweit kann entgegen vielfachen Ausführungen in der Denkschrift der Bundesregierung auch nicht davon ausgegangen werden, dass die Forderungen der BRK in Deutschland nahezu erfüllt sind.

Inklusion behinderter Menschen verlangt besondere Anstrengungen

Zudem geht die Zielsetzung der BRK für eine inklusive Politik für behinderte Menschen über die bisherigen integrativen Ansätze weit hinaus. Eine auf Inklusion ausgerichtete Teilhabepolitik für behinderte Menschen verlangt die Garantie der gesellschaftlichen Einbeziehung von Beginn an. Nicht eine einseitige Anpassungsleistung des behinderten Menschen steht im Vordergrund der Bemühungen, sondern die grundlegende Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse zum Wohl behinderter wie nicht-behinderter Menschen gleichermaßen. Die Inklusion behinderter Menschen verlangt jedoch mehr Anstrengungen als die Inklusion vieler anderer Bevölkerungsgruppen. Die BRK geht zu Recht davon aus, dass nur ein auf Inklusion ausgerichtetes Gesellschaftsmodell die Voraussetzungen schaffen kann, damit die gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit und ohne Behinderungen in allen Phasen des Lebens gewährleistet wird.

Konsequente Orientierung auf Teilhabe und Inklusion

Deshalb kann und muss die BRK als wichtige Chance genutzt werden, die Gesellschafts-, Bildungs-, Sozial- und Gesundheitspolitik in der Bundesrepublik Deutschland auf Teilhabe zu orientieren und im Lichte des Prinzips der Inklusion fortzuentwickeln sowie bestehende Defizite zu beseitigen. Im Hinblick auf die differenzierten Forderungen der BRK sieht die DVfR vielfachen Handlungsbedarf vor allem auch in den Bereichen der medizinischen Versorgung (Artikel 25) sowie der Habilitation/Frühförderung und der medizinischen, beruflichen und sozialen Rehabilitation bzw. Teilhabe (Artikel 26) und schließlich im Bildungsbereich (Artikel 24).

Gesundheitssystem zugänglich und bedarfsgerecht, Prävention vorantreiben

Ein inklusives Gesundheitssystem erfordert z. B. neben barrierefreien Arztpraxen und Räumlichkeiten von Heilmittelerbringern vor allem gemeindenahe qualitativ hochwertige Versorgungsangebote für alle behinderten Menschen, die jedoch bisher keineswegs flächendeckend vorliegen. Die BRK enthält zu Recht einen weitreichenden und bereichsübergreifenden Auftrag zur Prävention (Artikel 4, 26). Auch hier besteht weiterhin erheblicher Handlungsbedarf.

Hilfsmittelversorgung verbessern und Forschung verstärken

Mehrfach (Artikel 4, 20) weist die BRK auf die Notwendigkeit hin, alle erforderlichen Mobilitätshilfen zur Verfügung zu stellen sowie neue Technologien für behinderte Menschen nutzbar zu machen bzw. für ihren Bedarf zu entwickeln. Hieraus erwächst auch auf nationaler Ebene die Verpflichtung, die individuelle Versorgung mit qualitativ hochwertigen Hilfsmitteln sicherzustellen und die Forschung in diesem Bereich weiter zu verstärken.

Zugang zum Arbeitsmarkt verbessern

Die BRK fordert die Verwirklichung eines offenen und für Menschen mit Behinderungen zugänglichen Arbeitsmarktes (Artikel 27). Ein inklusives Ausbildungs- und Beschäftigungssystem setzt funktionierende Übergänge von Schule in Ausbildung und in den Beruf voraus und sichert so weit wie möglich Beschäftigung behinderter Menschen auf dem ersten Arbeitsmarkt. Hierzu müssen qualifizierte Ausbildungs- und Arbeitsplätze für behinderte Menschen in ausreichendem Umfang zur Verfügung stehen. Dies schließt Möglichkeiten zur Fort- und Weiterbildung im Sinne eines lebenslangen Lernens ein.

Fokus: personenzentrierte Förderung, inklusive Bildung und Ausbildung ermöglichen

Ein inklusiver Arbeitsmarkt gewährleistet qualifizierte Berufsberatung und Vermittlung. Er sichert Förderstrukturen mit personenzentriertem Ansatz und macht eine aktive Arbeitsmarktpolitik notwendig, die auf den behinderten Menschen zugeht und seine Wunsch- und Wahlrechte umfassend berücksichtigt. Die Schaffung eines inklusiven Bildungssystems (Artikel 24) ist insoweit zwingende Voraussetzung für das Funktionieren eines inklusiven Arbeitsmarktes. Das deutsche Schul- und Bildungssystem ist von Inklusion noch weit entfernt. Schule muss die Vielfalt und Individualität von Kindern anerkennen und wertschätzen. Gemeinsames Lernen von Kindern mit und ohne Behinderungen in Vorschule und Schule ist eine zentrale Herausforderung für die künftige Bildungspolitik in Deutschland. Nach Einschätzung der DVfR bedarf es insgesamt weiterer durchgreifender Anstrengungen, um die Ziele der BRK im Bereich der beruflichen Teilhabe und für ein inklusives Bildungssystem zu erreichen.

Unabhängige Lebensführung und umfassende soziale Einbeziehung fördern

Eine unabhängige Lebensführung und die umfassende soziale Einbeziehung in die Gemeinschaft sind der BRK ebenso zentrale Anliegen wie die Gewährleistung der persönlichen Mobilität und die Achtung der Privatsphäre. Damit unterstützt die BRK die individuelle Lebensgestaltung außerhalb von Einrichtungen und betont insoweit die Bedeutung der persönlichen Assistenz und der Wunsch- und Wahlrechte. Hieraus ergeben sich auch wichtige Impulse für die bevorstehende Neuordnung der Eingliederungshilfe für behinderte Menschen, deren Ziel es sein muss, die Leistungen individuell personenzentriert und bedarfsdeckend auszugestalten.

Umwelt barrierefrei gestalten

Die BRK fordert geeignete Maßnahmen zur Gestaltung einer barrierefreien Umwelt (Artikel 9) und mahnt damit weitere Schritte zur vollständigen Umsetzung des Behindertengleichstellungsgesetzes an.

Aktives Handeln ist gefordert

Die vorgenannten wenigen Beispiele lassen den umfangreichen Handlungsauftrag erkennen, den die Konvention an Staat und Gesellschaft richten. Die DVfR appelliert an alle Beteiligten und insbesondere an die politisch Verantwortlichen, sich zu den Zielen der BRK zu bekennen und ihre Umsetzung zu fördern bzw. sicherzustellen. Dies gilt umso mehr, als die BRK ein aktives Handeln auf nationaler Ebene in Form von geeigneten Maßnahmen und Programmen einfordert.

Aktionsplan von Bund und Ländern

Nach Artikel 35 ist auch die Bundesrepublik Deutschland verpflichtet, innerhalb von zwei Jahren nach Inkrafttreten der BRK einen umfassenden Bericht über die veranlassten Maßnahmen vorzulegen. Deshalb unterstützt die DVfR den Vorschlag des Deutschen Behindertenrats (DBR), zeitnah von Seiten der Bundesregierung einen Aktionsplan zu verabschieden, der die Ebene der Bundesländer einbezieht und die beabsichtigten Maßnahmen und Initiativen transparent darlegt.

Beteiligung der Selbsthilfe, internationale Zusammenarbeit

Bei der Erstellung des Aktionsplans sind die Forderungen und Erfahrungen der behinderten Menschen und ihrer Organisationen in besonderer Weise zu berücksichtigen. Ein solcher Aktionsplan muss auch konkrete Vorschläge enthalten, wie die in Artikel 32 vorgesehene internationale Zusammenarbeit für die beteiligten Organisationen und Institutionen organisiert und finanziert werden kann.

Rehabilitation hat wichtigen Beitrag zu leisten

Die DVfR sieht in der Umsetzung der Konvention einen Schwerpunkt ihres künftigen Engagements und wird diesen Prozess konstruktiv unterstützen. Sie wird sich an Kampagnen zur Bewusstseinsbildung in der Öffentlichkeit (Artikel 8) beteiligen und kurzfristig Vorschläge unterbreiten, die insbesondere den Beitrag der Rehabilitation zur Verwirklichung der Rechte behinderter Menschen konkretisieren. Die DVfR steht insoweit als Ansprechpartner jederzeit zur Verfügung.

im Juni 2009

1 Ratifi kationsgesetzentwurf sowie der Text der UN-Behindertenrechtskonvention in den amtlichen Fassungen Englisch und Französisch sowie die – nichtamtliche – deutsche Textfassung nebst der Denkschrift der Bundesregierung finden sich in BT-Drs. 16/10808, ein Entschließungsantrag des Deutschen Bundestages zur UNBehindertenrechtskonvention ist zu fi nden in BT-Drs. 16/11234 (verfügbar unter: http://dip21.bundestag. de/dip21/btd/16/108/1610808.pdf bzw. http://dip21. bundestag.de/dip21/btd/16/112/1611234.pdf.)

Korrespondenzadresse

Deutsche Vereinigung für Rehabilitation e. V.

Friedrich-Ebert-Anlage 9

69117 Heidelberg

eMail: info@dvfr.de

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