Rofo 1949; 71(5): 794-827
DOI: 10.1055/s-0029-1231613
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Die Klinik und Röntgenologie der angeborenen enchondralen Verknöcherungsstörungen (Fortsetzung)

Wolfgang Marquardt
  • Aus der Orthopädischen Universitätsklinik München (ehem. Direktor: Prof. Dr. K. Bragard)
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Publication Date:
24 August 2009 (online)

Zusammenfassung

Wer sich wissenschaftlich oder praktisch mit den Wachstumsstörungen des Skeletts und ihren Folgezuständen befaßt, stößt im Einzelfall hie und da auf große Schwierigkeiten der ätiologischen Einordnung und damit der Beurteilung der erbpathologischen Bedeutung, des Unfallzusammenhanges, der Prognose und Behandlung. Insbesondere läuft man Gefahr, manche erworbenen Erkrankungen der Knochen und Gelenke mit den leichten und leichtesten Formen der angeborenen enchondralen Verknöcherungsstörungen zu verwechseln, welche — wie viele, meist kasuistische Berichte der neuen Zeit melden — nicht nur häufig vorkommen, sondern auch den erworbenen

Leiden sehr ähnliche klinische und röntgenologische Bilder erzeugen. Es fehlt uns aber bisher eine systematische Bearbeitung der gesamten enchondralen Knorpelverknöcherungsstörungen, insbesondere der bisher vielfach als atypische Chondrodystrophie bezeichneten subchondralen Entwicklungsstörungen beim Kinde und Erwachsenen. Sie wird in der vorliegenden Arbeit auf Grund des Schrifttums und des eigenen bisher größten Krankengutes erbracht.

Bei den angeborenen enchondralen Verknöcherungsstörungen lassen sich 2 große Formenkreise unterscheiden:

1. Die Chondrodystrophie, bei der die enchondrale Verknöcherungsstörung vorzüglich auf einer Veränderung der subperiostalen Knorpelverknöcherung beruht, also an die metaphysären Abschnitte der Wachstumsfugen der Röhrenknochen gebunden ist.

2. Die subchondrale Verknöcherungsstörung, welche im wesentlichen an Epiphysen und kurzen Knochen zur Auswirkung kommt.

Pathologisch-anatomische Untersuchungen liegen über letztere noch nicht vor. Beiden Typen entsprechen aber in ihren schwersten Ausprägungen wohl charakterisierten unproportionierten Zwergwuchsformen; der subperiostalen Fehlentwicklung der bekannte kurzgliedrige, verhältnismäßig langrumpfige Zwerg, der subchondralen Verknöcherungsstörung der kurzrumpfige, langgliedrige Zwerg. Die zwei Zwergwuchsarten bilden den Mittelpunkt der vielfältigen leichten Formen der Chondrodystrophie und des im amerikanischen und französischen Schrifttum als Morquiosche Krankheit bezeichneten subchondralen Mißwuches. Die leichtesten Abstufungen der subperiostalen Störung können mit normaler, die geringsten subchondralen Störungen sogar mit übergroßer Körperlänge einhergehen. Zwischen beiden Formenkreisen kommen nicht selten Übergänge vor, in denen sich subperiostaler und subchondraler Mißwuchs in mannigfacher Weise überschneiden. Für den Kliniker und Erbpathologen spielen die leichten Formen beider Systemleiden eine besondere Rolle. Die leichten Formen der Chondrodystrophie sind vor allem durch Abweichungen konstitutioneller Art des Gelenkaufbaues charakterisiert. Zu klinischen Beschwerden geben die Fehlbildungen chondrodystrophischer Gelenke nur auf dem Umweg über die sekundäre Arthrose Veranlassung. Die typischen Deformitäten des Skeletts, wie O-Bein, Kyphose am lumbo-dorsalen Übergang und Madelungsche Handgelenksdeformität können ähnliche Bilder wie andere Knochenerkrankungen erzeugen. Durch die subchondrale Verknöcherungsstörung werden folgende Verkrümmungen des Skeletts hervorgerufen: Plattfüße angeborenen Typs, X-Beine der kindlichen und adoleszenten Form, flachbogige Kyphose des lumbo-dorsalen Übergangs, Skoliose und Dorsalkyphose; an typischen Gelenkerkrankungen werden folgende Krankheitsbilder verursacht: Habituelle Patellarluxation, Subluxation des Hüftgelenkes, angeborene Hüftluxation und der Osteochondritis dissecans ähnliche Bilder an allen Gelenken, die jedoch nicht auf einer Demarkation eines Epiphysenteiles, sondern auf der Bildung eines Nebenkernes der Epiphysen beruhen. Das zeigt sich besonders in Kontrastaufnahmen. Ferner haben sich bisher unbekannte Verbindungen mit der Gelenkchondromatose ergeben (in 6 von 23 Fällen), deren Anlagestörung anscheinend mit der subchondralen Verknöcherungsstörung parallel läuft. Klinische Beschwerden verursachen statisch bedingte Reizzustände und frühzeitige Arthrosis deformans der Gelenke, welche beide durch die Inkongruenz der Gelenkflächen entstehen. Diese Folgeerscheinungen sind beim subchondralen Mißwuchs infolge der viel stärkeren Veränderungen der Gelenkkörper weit schwerer als bei der Chondrodystrophie. Vor Verwechslung der enchondralen Verknöcherungsstörungen geringer Ausprägung mit anderen Gelenkerkrankungen schützt die röntgenologische Untersuchung aller großen Gliedmaßengelenke und der Wirbelsäule, gegebenenfalls auch bei den Sippenangehörigen.

Die bisherigen Unterlagen für die Vererbbarkeit der enchondralen Verknöcherungsstörungen beider Formenkreise werden gesammelt und neue Beweise beigebracht. Die Mischformen, welche nur schwere Fälle betreffen, sind in einem eigenen Abschnitt dargestellt. Aus den klinischen Beobachtungen ergeben sich wichtige Grundsätze für die Behandlung.

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