Dtsch Med Wochenschr 1925; 51(35): 1439-1441
DOI: 10.1055/s-0028-1137087
© Georg Thieme Verlag, Stuttgart

Zur Nirvanolbehandlung der Chorea minor

S. Schmal - Assistenzarzt
  • Aus dem Kaiserin Auguste Viktoria-Haus in Charlottenburg. (Direktor: Prof. Langstein.)
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Publication Date:
22 August 2009 (online)

Zusammenfassung

Wenn wir unsere drei Fälle noch einmal im Zusammenhang betrachten, so können wir feststellen, daß in zweien die Nirvanoltherapie unter den bekannten Erscheinungen des Fiebers und Exanthems zu einem vollen Erfolg geführt hat. Dieser Erfolg ist besonders glänzend in dem einen Falle von schwerster Chorea. Fieber und Exanthem boten nichts Neues gegenüber den früheren Beschreibungen.

Bemerkenswert ist nun, daß im dritten Falle weder Fieber noch Exanthem auftrat. Husler spricht zwar auch von einem oder zwei Versagern anderer Art, nämlich Fällen, in denen es trotz Exanthems nicht zu deutlicher Beeinflussung der Chorea kam. Er nennt als mutmaßliche Gründe für dieses Versagen zu kurzdauernde Verabfolgung oder zu geringe Dosierung. Die erstere können wir in unserem Falle für das Ausbleiben von Fieber und Exanthem nicht verantwortlich machen. Nirvanol wurde hier 18 Tage lang gegeben. Vielleicht die letztere, obwohl wir die übliche Dosis von 0,3 bis 0,4 g gegeben haben. Man müßte dann eben eine individuell verschiedene Reaktionsfähigkeit auf das Mittel annehmen. Ob es nur ein Zufall war, daß gerade bei dem Patienten mit der leichtesten Chorea die Reaktion mit Fieber und Exanthem ausblieb, vermögen wir nicht zu sagen. Es wäre ja denkbar, daß Kranke mit schwerer Chorea viel leichter auf das Mittel ansprechen. Unsere Beobachtung, daß im ersten, schwereren Falle das Fieber schon am 5. Tage auftrat und 8 Tage lang eine sehr hohe Kontinua auf wies, daß sich auch das Exanthem schon am 7. Tage einstellte, während im zweiten, weniger schweren Falle das Fieber erst am 9. Tage auftrat, nur 5 Tage bestehen blieb, niedrigere Grade zeigte, und auch das Exanthem erst am 9. Tage sich ausbildete, können wir leider nicht zur Entscheidung dieser Frage mit heranziehen, wegen des großen Unterschiedes der Dosen, die in den beiden Fällen verabfolgt wurden.

Wir müssen übrigens bemerken, daß auch in diesem dritten Falle, der weder Fieber noch Exanthem bekam, vom 10. Tage der Nirvanolmedikation an eine deutliche Besserung der choreatischen Symptome beobachtet wurde. Dieser Tatsache käme, wenn sie auch von anderen Beobachtern bestätigt würde — unser betreffender Fall stellte eben nur eine leichte Chorea dar — eine große Bedeutung in bezug auf den Wirkungsmodus der Nirvanoltherapie zu. Darüber später noch ein paar Worte.

Auf das Auftreten irgendwelcher Nebenerscheinungen wurde besonders geachtet. Die Brauchbarkeit eines Medikamentes würde ja doch illusorisch, wenn es sich zeigte, daß es zwar die Symptome, deretwegen es verabfolgt wurde, zu beseitigen vermag, dafür aber auf andere Organe schädigend wirkt. Die genaue Beobachtung etwaiger Nebenerscheinungen erschien uns aus mehreren Gründen besonders geboten. Zum ersten müssen wir uns darüber klar sein — wir haben es schon eingangs gesagt —, daß Fieber und Exanthem, die wir durch das Medikament herbeiführen wollen, toxische Reaktionen darstellen. Zum zweiten müssen wir bedenken, daß in fast allen Fällen von Chorea Herzerscheinungen bestehen, oft nur Rhythmusstörungen, sehr häufig aber auch die klinischen Symptome eines Klappenfehlers oder gar einer noch akuten Endokarditis. Diese Tatsache mahnt einerseits zur Vorsicht, daß man bestehende Erscheinungen durch die toxischen Dosen des Medikamentes nicht verschlimmere, und führt anderseits zu dem Schlüsse, daß man für neuauftretende bzw. sich verstärkende Symptome nicht unbedingt das Medikament verantwortlich machen darf. Nun hat schon die pharmakologische Prüfung des Mittels im Tierversuch ergeben, daß es sich in passenden Dosen dem Kreislauf und der Atmung gegenüber indifferent verhält (Poulsson). Bei zwei von unseren Fällen bestanden die Symptome eines leichten, durchaus kompensierten Klappenfehlers. Bei beiden blieben diese Symptome völlig unverändert sowohl während als auch nach Verabfolgung des Medikamentes, und zwar trotz Ueberdosierung des Mittels in dem einen Falle.

Mehr unangenehm als bedenklich ist die starke hypnotische Wirkung, die nicht nur bis zur Somnolenz, sondern sogar — allerdings wieder bei sehr hoher Dosierung — bis zu einem gewissen Sopor des Patienten führen kann. Dieser Umstand dürfte wohl auch Veranlassung dazu geben, die Nirvanoltherapie der Chorea wenn möglich nur in der Klinik durchzuführen.

Der Wirkungsmodus des Medikamentes ist unbekannt. Husler glaubt nicht an eine Reizkörpertherapie, sondern an eine chemische Einwirkung auf striäre Zentren. Man wird über eine große Anzahl von Beobachtungen verfügen müssen, um zu entscheiden, welche Rolle dem Fieber und Exanthem bei der Wirkung des Nirvanols zukommt, ob Fieber und Exanthem eine conditio sine qua non bedeuten, ob in gewissen Fällen Fieber ohne Exanthem bzw. umgekehrt ein Exanthem ohne Fieber auftreten und den Verlauf der Chorea beeinflussen kann.

Nach den Erfahrungen, die wir mit der Nirvanolbehandlung der Chorea gemacht haben, möchten auch wir dazu raten, in Fällen von Chorea, besonders in den schwereren, diese Therapie anzuwenden.

Darüber hinaus wäre es wünschenswert, wie H. Strauß in der Diskussion zum eingangs erwähnten Vortrage Langsteins angeregt hat, zu versuchen, auch durch andere Hypnotika, etwa durch Luminal, in entsprechend hoher Dosierung Fieber und Exanthem zu erzeugen und die Wirkung auf die Chorea zu beobachten.

Aber auch noch ein anderer Versuch wäre von größtem Interesse — Langstein hat diesen Gedanken geäußert — nämlich auch andere „striäre Symptomenkomplexe”, z. B. enzephalitische Prozesse, deren Abgrenzung gegenüber der Chorea in vielen Fällen sehr schwierig, ja oft ganz unmöglich ist, durch eine solche Therapie zu beeinflussen.

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