Dtsch Med Wochenschr 1911; 37(45): 2086-2089
DOI: 10.1055/s-0028-1131079
© Georg Thieme Verlag, Stuttgart

Ueber Dystrophia adiposo-genitalis bei Neubildungen im Hypophysengebiet, insbesondere vom praktisch-chirurgischen Standpunkt1) (Schluß aus No. 44.)

Ludwig Pick
  • Aus der Pathologisch-anatomischen Anstalt des Städtischen Krankenhauses im Friedrichshain in Berlin
1) Nach einem Vortrag in der Freien Vereinigung der Chirurgen Berlins am 12. Juni 1911.
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Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
24. August 2009 (online)

Ueber Dystrophia adiposo-genitalis bei Neubildungen im Hypophysengebiet, insbesondere vom praktisch-chirurgischen Standpunkt7) (Fortsetzung aus No. 43.)

Zusammenfassung

1. Wie bei der Akromegalie kann auch bei der zerebralen Dystrophia adiposo-genitalis eine Besserung der charakteristischen Veränderungen — insbesondere des Dysgenitalismus — nach der Operation der Hypophysengeschwulst erfolgen, und zwar wie bei der Akromegalie nach einer unradikalen Operation.

Doch sind die pathologisch-anatomischen und topographischen Verhältnisse der Neubildungen sowohl wie die kausalen anatomischen Bedingungen bei der Dystrophia adiposo-genitalis wesentlich andere als bei der Akromegalie.

2. Für die Akromegalie ist das pathologisch-anatomische typische Korrelat die (hyperpituitaristisch wirkende) epitheliale Neubildung des (Hypophysenvorderlappens, für die zerebrale reine, nicht mit Akromegalie kombinierte Dystrophia adiposogenitalis die histologisch irgendwie geartete in oder neben der Hypophyse oder bei gleichzeitigem Hydrocephalus (B. Fischer) an anderer Stelle des Gehirns, insbesondere dem Cerebellum, entwickelte Neubildung; Adipositas und Dysgenitalismus kann, sofern überhaupt eine zerebrale Genese vorliegt, auch nach Traumen der Hypophysenregion (Madelung) und anscheinend auch bei bloßem chronischen Hydrocephalus (Goldstein) getroffen werden, sofern nur dabei der Boden des dritten Ventrikels bzw. Infundibulum und Hypophysenhinterlappen (oder der Hypophysenvorderlappen) alteriert werden.

Die Akromegalie ist in ihrer Genese abhängig von der Funktion, die Dystrophia adiposo-genitalis von der Lokalisation der intrakraniellen Neubildung.

3. Die pathologisch-anatomische Analyse der Neubildungen an Hypophyse und Hypophysenumgebung bei der zerebralen Dystrophia adiposo-genitalis ergibt im Gegensatz zu der uniformen geschwulstmäßigen Umwandlung des Hypophysenvorderlappens bei der Akromegalie sehr variable Verhältnisse für die Art, Form und Topographie der Geschwülste: teils rein suprahypophysäre Neubildungen (Geschwülste des Infundibulum oder des Ventrikelbodens bei nicht selten freier Hypophyse und unter Umständen auch von Geschwulstbildung freier Sella), teils parahypophysäre Tumoren (Duraendotheliom in der Sella turcica), teils Neubildungen der Hypophyse selbst. Einheitlich ist nur, entsprechend der früheren Feststellung Erdheims, für die Neubildungen des Hypophysengebietes bei Dystrophia adiposo-genitalis die Neigung, gegen die Hirnbasis emporzudrängen.

Die von der Hypophyse selbst ausgehenden Geschwülste erscheinen dabei oft in charakteristischer zweiteiliger Form, mit einem kleinen intrasellären Abschnitt und einem größeren intrakraniellen, der mit ersterem durch einen Stiel verbunden ist.

4. Durch das Abrücken der Neubildungen von dem mit der basalen, transsphenoidalen Operation als Methode der Wahl anzugreifenden Operationsfeld entstehen bei der Dystrophia adiposo-genitalis häufig für die chirurgische Erreichbarkeit und Beseitigung der Hirngeschwulst technisch ungünstige topographische Bedingungen.

Außerdem sind hier gleichzeitig auch für die operative Besserung der Dystrophia adiposo-genitalis als solcher die Chancen im allgemeinen ungünstiger als bei der Operation der hypophysären Neubildungen für die Behebung der Akromegalie. Für die operative Besserung der Akromegalie bildet die Indicatio causalis die Verminderung des hyperfunktionierenden Geschwulstparenchyms, für die zerebrale Dystrophia adiposo-genitalis die Dekompression des Hypophysenhinterlappens und Infundibulum oder — im Sinne Erdheims — der Infundibularregion und des Bodens des dritten Ventrikels oder — falls die Dystrophie durch Hypofunktion des epithelialen Hypophysenparenchyms bedingt ist — des Hypophysenvorderlappens. Darum kann neben der rein topographisch oder in der Malignität des Tumors begründeten Inoperabilität bei der Dystrophia adiposo-genitalis eine physiologisch-funktionelle Inoperabilität entstehen, wenn Hypophyse, Infundibulum und eventuell auch der Ventrikelboden (oder der ganze Vorderlappen) von der Neubildung direkt oder indirekt durch Druck zerstört sind.

Die physiologisch- und pathologisch-anatomische Analyse der Neubildungen des Hypophysengebietes erklärt die im Verhältnis zu den glänzenden chirurgischen Erfolgen bei der Akromegalie nicht so günstigen Operationsergebnisse bei der zerebralen Dystrophia adiposo-genitalis.

5. Die aussichtsreichste Prognose für den chirurgischen Eingriff bei Geschwülsten des Hypophysengebietes mit Dystrophia adiposo-genitalis — für die Exstirpation der Geschwulst sowohl als für die Besserung der Dystrophie — besteht dann, wenn der Tumor, ähnlich wie bei der Akromegalie, im Vorderlappen der Hypophyse sitzt. Dafür sprechen die bisher erfolgreich (z. B. von v. Eiselsberg mit Froehlich und Bychowski) operierten Fälle. Zysten des Vorderlappens oder ein parahypophysärer Duratumor (Zak) können hier besonders günstige Verhältnisse schaffen.

Ob durch palliative, dekompressiv wirkende Behandlung des Hydrocephalus, in Fällen von Dystrophia adiposo-genitalis bei an sich inoperablen Tumoren des Hirns außerhalb des Hypophysengebietes (Vierhügel, Kleinhirn etc.) sich Besserungen der Adipositas und des Dysgenitalismus erzielen lassen, bleibt abzuwarten.

6. Die Indikation des chirurgischen Eingriffs wird bei der Dystrophia adiposo-genitalis mit Geschwülsten des Hypophysengebietes nicht durch den Zustand der Dystrophie, sondern in erster Linie durch die jeweiligen Symptome und Beschwerden seitens der Hirngeschwulst als solcher gegeben, kann allerdings möglichst weit gesteckt werden.

Bei der Operation der Dystrophia adiposo-genitalis muß — ebenso wie bei der Operation der Akromegalie — nach dem jetzigen Stand der Frage Hinterlappen der Hypophyse und Infundibulum (und auch ein Teil des Vorderlappens) geschont werden.

7. Wie bei der Akromegalie (Erdheim) kommen auch bei der Dystrophia adiposo-genitalis sehr selten epitheliale Neubildungen des Hypophysenvorderlappens aus basophilen Elementen vor (unser Fall).

8. Karzinomähnlich aussehende Geschwülste des Hypophysenvorderlappens bei der Dystrophia adiposo-genitalis können — wie auch sonst eine Hypophysenstruma (Konjetzny). — in fast vollständigem Umfang versteinern bei benignem, über viele Jahrzehnte ausgedehntem Wachstum (unser Fall). Die Operabilität wird dadurch erschwert, die röntgenologische Diagnose, auch wenn die Neubildung wesentlich intrakraniell oberhalb der Sella entwickelt ist, erleichtert.

Individuen mit derartigen Tumoren können auch un-operiert bei erträglichem Befinden ein höheres Alter erreichen (64 Jahre in unserem Fall) und an akzidentellen Krankheiten, die keine Beziehung zu der Hypophysengeschwulst und dem Zustand der Dystrophie besitzen, zugrundegehen.

9. Die anatomischen Veränderungen der übrigen Blutdrüsen bei der Dystrophia adiposo-genitalis mit Hypophysengeschwulst stimmen nach den bisherigen pathologisch-anatomischen Erfahrungen in den einzelnen Fällen nicht überein.

Die Schilddrüse kann dabei im Zustande einer typischen Kolloidstruma gefunden werden, die Nebennieren können hypertrophieren (unser Fall).

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