Fortschr Neurol Psychiatr 2009; 77(12): 689-690
DOI: 10.1055/s-0028-1109795
Editorial

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Brauchen wir in Deutschland Versorgungsforschung?

Do We Need Health Services Research in Germany?B. Neundörfer1
  • 1Neurologische Klinik am Universitäts-Klinikum Erlangen
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Publication Date:
30 November 2009 (online)

Während in den U. S. A. nahezu jede Medizinische Fakultät über ein Institut bzw. eine Professur für Public Health verfügt, führt dieser Forschungszweig in Deutschland immer noch ein Schattendasein. Um diese Mangelsituation auszugleichen, legte das BMBF im Jahre 1993 ein Förderprogramm auf, in welchem Rahmen in fünf Forschungsverbünden für Public Health entsprechende Projekte bearbeitet wurden. In der zweiten und dritten Förderperiode konnte sich auch das bevölkerungsbezogene Schlaganfallregister Erlangen – das Erlanger Schlaganfallprojekt (ESPro) – als Mitglied des Bayerischen Forschungsverbunds beteiligen. Das ESPro erfasst seit 1994 alle Patienten mit einem erstmals aufgetretenen Schlaganfall im Stadtbezirk Erlangen mit 105 000 Einwohnern und beobachtet deren weiteren Verlauf. So konnten erstmals bevölkerungsbezogene Daten zur Inzidenz und zum Verlauf des Schlaganfalls in Deutschland berichtet werden [1]. Zur Einteilung der zerebralen ischämischen Insulte benützt das ESPro die TOAST-Klassifikation [2]. Es konnte bewiesen werden, dass damit auch prognostische Aussagen gemacht werden können [3].

Nachdem der Schlaganfall die häufigste Ursache für eine lebenslange Behinderung nach dem 60. Lebensjahr ist [4], ist es auch für die im Gesundheitswesen agierenden Institutionen von großer Bedeutung zu wissen, welche Kosten durch einen Schlaganfall entstehen [5], wobei das Ausmaß der Pflegebedürftigkeit der entscheidende Faktor sein dürfte. In der von Dietl et al. in diesem Heft vorgelegten Studie [6], die gleichfalls auf Daten aus dem Erlanger Schlaganfallprojekt basiert, konnte nun gezeigt werden, dass die TOAST-Klassifikation auch geeignet ist, in einem frühen Stadium der Erkrankung den Pflegebedarf zu berechnen.

Bei den weltweit explodierenden Kosten im Gesundheitswesen nimmt es nicht Wunder, dass Versorgungsforschung mit Daten zu Epidemiologie, Risikofaktoren, Verlauf und Kostenentwicklung bei Volkskrankheiten wie Schlaganfall (u. a. [7] [8] [9]), Parkinson-Erkrankung (u. a. [10] [11] [12]), Demenz (u. a. [13] [14]) oder Schizophrenie (u. a. [15] [16]) in den Mittelpunkt des Interesses gerückt ist. Auch in den „Fortschritten Neurologie Psychiatrie” werden zunehmend Beiträge aus dem Bereich Public Health und Versorgungsforschung publiziert. So brachten z. B. im Jahre 2007 zwei Arbeiten Umfrageergebnisse in psychiatrischen und psychotherapeutischen Praxen sowie in Suchtberatungsstellen zur Versorgung von alkoholbezogenen Störungen [17] [18]; eine weitere Arbeit beschäftigte sich mit integrativen und gesundheitsökonomischen Perspektiven der psychiatrischen Versorgung [19] und Diehl-Schmid et al. [20] berichteten über eine Verlaufsbeobachtung bei 115 Patienten mit frontotemporaler Demenz. Im Jahre 2008 gingen Reicke et al. [21] in einer prospektiven Studie der Frage nach, warum in einem nicht unbeträchtlichen Anteil von Patienten mit Vorhofflimmern keine Antikoagulantien eingenommen werden, und Behrens und Calliess [22] setzten sich mit der Modifikation therapeutischer Strategien für die Arbeit mit Migranten auseinander.

Versorgungs- und damit Teil von Public Health-Forschung ist also mehr denn je notwendig, denn bei den schwindenden finanziellen Ressourcen geht es darum, auch in Zukunft die Fortschritte der Medizin möglichst allen Patienten, jedoch zielgerecht und differenziert zukommen zu lassen.

Prof. Dr. B. Neundörfer

Literatur

  • 1 Kolominsky-Rabas P L, Sarti C, Heuschmann P U. et al . A prospective community-based study of stroke in Germany – The Erlangen Stroke Project (ESPro): incidence and case fatality at 1, 3, and 12 months.  Stroke. 1998;  29 2501-2506
  • 2 Kristensen B, Malm J, Carlberg B. et al . Epidemiology and etiology of ischemic stroke in young adults aged 18 and 44 years in northern Sweden.  Stroke. 1997;  28 1702-1709
  • 3 Kolominsky-Rabas P L, Weber M, Gefeller O. et al . Epidemiology of ischemic stroke subtypes according to TOAST criteria: incidence, recurrence, and long-term survival in ischemic stroke subtypes: a population-based study.  Stroke. 2001;  32 2735-2740
  • 4 Kurtzke J F. The current neurologic burden of illness and injury in the US.  Neurology. 1982;  32 1207-1212
  • 5 Kolominsky-Rabas P L, Heuschmann P U, Marschall D. et al . Lifetime cost of ischemic stroke in Germany: results and national projections from a population-based stroke registry: the Erlangen Stroke Project.  Stroke. 2006;  37 1179-1183
  • 6 Dietl M, Pole R, Weingärtner M. et al . Zusammenhang zwischen Schlaganfallursache und Pflegebedürftigkeit. Langzeitergebnisse aus einem bevölkerungsbezogenen Schlaganfallregister – dem Erlanger Schlaganfall Projekt (ESPro).  Fortschr Neurol Psychiat. 2009;  77 714-719
  • 7 Centers for Disease Control and Prevention (CDC) . Prevalence of stroke – United States, 2005.  MMWR Morb Mortal Wkly Rep. 2007;  56 469-474
  • 8 Beguiristain J M, Mar J, Arrazola A. The Cost of cerebrovascular accident.  Rev Neurol. 2005;  40 406-411
  • 9 Taylor T N, Davis P H, Torner J C. et al . Lifetime cost of stroke in the United States.  Stroke. 1996;  27 1459-1466
  • 10 Goulionis J E, Vozikis A. Medical decision making for patients with Parkinson disease under Average Cost Criterion.  Aust New Zealand Health Policy. 2009;  6 15
  • 11 Keller S, Kessler T, Meuser T H. et al . Analyse der direkten Kosten in der Parkinson-Therapie.  Nervenarzt. 2003;  74 1105-1109
  • 12 Dowding C H, Shenton C L, Salek S S. A review of the health –related quality of life and economic impact of Parkinson’s disease.  Drugs Aging. 2006;  23 693-721
  • 13 Neubauer S, Holle R, Menn P. et al . A valid instrument for measuring informal care time for people with dementia.  Int J Geriatr Psychiatry. 2009;  24 275-282
  • 14 Dietl M, Kornhuber J, Schöffski O. et al . Cost-Effectiveness Model of a Community-Based Service for Dementia Caregivers.  Gesundheitswesen. 2009;  June 23 Epub ahead of print
  • 15 Clade H. Fallbeispiel Schizophrenie: Hohe soziale Kosten. Günstiges Kosten-Nutzen-Verhältnis innovativer Medikamente der neuen Generation.  Dtsch Ärztebl. 2003;  100 B1598-B1599
  • 16 Llorca P M, Miadi-Fargier H, Lancon C. et al . Cost-effectiveness analysis of schizophrenic patient care settings: impact of an atypical antipsychotic under long-acting injection formulation.  Encephale. 2005;  31 235-246
  • 17 Berner M M, Langlotz M, Kriston L. et al . Diagnostik und Behandlung alkoholbezogener Störungen – Ergebnisse einer repräsentativen Umfrage in psychiatrischen und psychotherapeutischen Praxen.  Fortschr Neurol Psychiat. 2007;  75 18-25
  • 18 Berner M M, Ruf D, Härter M. Diagnostik und Behandlung alkoholbezogener Störungen – Ergebnisse einer repräsentativen Umfrage in Suchtberatungsstellen.  Fortschr Neurol Psychiat. 2007;  75 91-99
  • 19 Dammann G. Für eine „Neue Sozialpsychiatrie”: Aktuelle Brennpunkte und Entwicklungslinien der psychiatrischen Versorgung im Spannungsfeld von integrativen und gesundheitsökonomischen Perspektiven.  Fortschr Neurol Psychiat. 2007;  75 593-606
  • 20 Diehl-Schmid J, Pohl C, Perneczky R. et al . Frühsymptome, Überlebenszeit und Todesursachen – Beobachtungen an 115 Patienten mit Demenz auf der Grundlage frontotemporaler lobärer Degenerationen.  Fortschr Neurol Psychiat. 2007;  75 708-713
  • 21 Reicke B, Masuhr F, Weih M. Analyse des „Nichtgebrauchs” der oralen Antikoagulation zur Schlaganfallprävention bei Vorhofflimmern: Eine prospektive Studie.  Fortschr Neurol Psychiat. 2008;  76 391-395
  • 22 Behrens K, Calliess I T. Gleichbehandlung ohne gleiche Behandlung: Zur Notwendigkeit der Modifikation therapeutischer Strategien für die Arbeit mit Migranten.  Fortschr Neurol Psychiat. 2008;  76 725-733

Prof. Dr. Bernhard Neundörfer

Neurologie am Stadtpark

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