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DOI: 10.1055/s-0028-1109400
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York
Franz Günther von Stockert im Spannungsfeld von Politik und Wissenschaft – Ein Beitrag zur Geschichte der Nervenheilkunde in der DDR
Franz Günther von Stockert Between Politics and Science – A Study in the History of the Neurology and Psychiatry in the GDRPublication History
Publication Date:
05 May 2009 (online)
Zusammenfassung
Seit 1945 wurden in der Sowjetischen Besatzungszone und später in der DDR sogenannte antifaschistisch-demokratische Umwälzungen durchgeführt, die auch zu einer grundlegenden Reformierung des Hochschulwesens führten. Ziel war die Konstituierung einer „neuen sozialistischen Intelligenz”, die die Lehren des Marxismus-Leninismus an den Hochschulen und Universitäten verbreiten sollte. Die Realität sah zunächst jedoch anders aus. Man musste auf „alte Bildungseliten” zurückgreifen, was in der Praxis häufig zu erheblichen Problemen führte. Vor dem Hintergrund der gesellschaftspolitischen Ereignisse untersucht die Arbeit die Vorgänge an der Universitäts-Nervenklinik Rostock-Gehlsheim. Hier war in besonderem Maße der zwischen 1954 und 1958 die Klinik leitende Direktor, Franz Günther von Stockert (1899 – 1967), betroffen. Anhand von bisher nicht zugänglichem Archivmaterial werden Hintergründe, Motive und Konsequenzen aufgearbeitet, die zu seiner Entlassung und kurzzeitigen Inhaftierung führten. Zudem wird am Beispiel von Stockerts gezeigt, wie außerwissenschaftliche Aspekte Wissenschaft und Disziplingenese beeinflussen können. Die Arbeit versteht sich als Beitrag zur Wissenschaftsgeschichte in der DDR bis 1961.
Abstract
1945 marked the beginning of the so-called anti-fascist democratic transformation in the Soviet occupied zone and later GDR, which also included radical reforms in the higher education system. The aim of these reforms was to establish a ”new intelligence” that was to spread Marxist – Leninist teaching in universities and colleges. However, in practice the new rulers had to rely on the old ”erudite elite” which led to considerable problems. Against this socio-political background this study analyses the affairs at the neuropsychiatric clinic Gehlsheim at Rostock University, in particular those around Franz Günther von Stockert (1899 – 1967), who was head of the department between 1954 and 1958. Archival sources, not accessible till now, shed light on the background and motives that finally led to his dismissal and short-term imprisonment, and the consequences for the clinic. The analysis of this example also shows how external factors can influence science and the disciplinary differentiation. This case from the field of psychiatry and neurology is a contribution to the broader history of science in the GDR until 1961.
Schlüsselwörter
Ostdeutschland - von Stockert - Psychiatriegeschichte - gesellschaftspolitische Einflüsse
Key words
East Germany - von Stockert - history of psychiatry - socio-political influence
Literatur
- 1 Ernst A S. „Die beste Prophylaxe ist der Sozialismus”: Ärzte und medizinische Hochschullehrer in der SBZ/DDR 1945 – 1961. Münster; Waxmann 1997
- 2 Kumbier E, Haack K. Wirken und Leben von Franz Günther Ritter von Stockert. Beiträge zum Frankfurter Symposium 2006. Universität Rostock 2007
- 3 UA Frankfurt .Personal-Hauptakte, Kuratorium der J. W. Goethe Universität,. Bd. I, Abt. 14, Nr.157
- 4 Nachlass F. G. von Stockert (im Besitz der Familie von Stockert).
- 5 UA Rostock .Personalakte – von Stockert.
- 6 UA Halle .Personalakte 15 015 – von Stockert, Franz-Günther.
- 7 Stockert F G. Die Sexualität des Kindes. Stuttgart; Enke 1956
- 8 Harbauer von H. In memoriam Franz-Günther Ritter von Stockert. Nervenarzt. 1968; 39 49-50
- 9 Castell R, Nedoschill J, Rupps M. et al .Geschichte der Kinder- und Jugendpsychiatrie in Deutschland in den Jahren 1937 bis 1961. Göttingen; Vandenhoeck & Ruprecht 2003: 480-488
- 10 Kumbier E, Haack K, Herpertz S. Überlegungen zum Wirken des Neuropsychiaters Gabriel Anton (1858 – 1933). Nervenarzt. 2005; 76 1132-1140
- 11 Bumke O. Erinnerungen und Betrachtungen: Der Weg eines deutschen Psychiaters. München; Pflaum 1952
- 12 BStU .Archiv der Außenstelle Rostock. AU 44 / 58 BA Band 2
- 13 Ljunggren B. Herbert Olivecrona: founder of Swedish neurosurgery. J Neurosurg. 1993; 78 142-149
- 14 BStU .1006 / 65, „Schneider” I.
- 15 BArch DR 3 – 11 122.
- 16 UA Rostock .Medizinische Fakultät Nervenklinik – Abteilung Kinder-Neuro-Psychiatrie 1957 – 1977:. 1682
- 17 BArch DR 3 1. Schicht – 0158.
- 18 BArch DR 3 Bd.173,a,b: Sekretariat des Staatssekretariats, Dienstbesprechung, Bd.2:. Juli–Dez. 1958
- 19 Kowalczuk I S. Geist im Dienste der Macht – Hochschulpolitik in der SBZ/ DDR. Berlin; Ch. Links 2003
1 Ausführliche Angaben zu Biografie und Werk von Stockert einschließlich seiner Bibliografie finden sich in [2] unter Berücksichtigung verschiedener Personalakten und dem persönlichen Nachlass [3] [4] [5] [6].
2 Von Stockert war mit einer Tochter von Gabriel Anton (1858 – 1933) verheiratet, der u. a. den Lehrstuhl für Psychiatrie an der Universität Halle inne hatte [10].
3 Nach der Rückkehr von Stockerts in die Bundesrepublik Deutschland wurde das Urteil der DDR-Justiz auf Antrag der Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt am Main noch 1958 für unzulässig erklärt. Nach der politischen Wende beschloss auch das Landgericht Rostock am 14.7.1995 auf Antrag der Familie, das Urteil des damaligen Bezirksgerichts Rostock vom 20.5.1958 bzw. den Beschluss des damaligen Obersten Gerichts der DDR vom 4.7.1958 aufzuheben, erklärte es für rechtsstaatswidrig und entschied, Franz Günther von Stockert zu rehabilitieren. Es wurde festgestellt, dass von Stockert zu Unrecht Freiheitsentzug in der damaligen DDR erlitten hatte.
4 Besonderes Gewicht schien nach Aussage des Rechtsanwalts, der von Stockert im Prozess verteidigte, ein Schreiben von Herbert Olivecrona (1891 – 1980) aus Stockholm zu haben. Olivecrona war ein bekannter Wissenschaftler und Wegbereiter der Neurochirurgie in Europa [13]. Zudem spielten die neutralen Länder Europas, neben der Schweiz und Österreich auch Schweden, für die DDR im Zusammenhang mit dem Bemühen um die Anerkennung als souveräner Staat eine wichtige Rolle.
Dr. med. Ekkehardt Kumbier
Zentrum für Nervenheilkunde der Universität Rostock, Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie
Gehlsheimer Straße 20
18147 Rostock
Email: ekkehardt.kumbier@medizin.uni-rostock.de