Suchttherapie 2008; 9(4): 148-149
DOI: 10.1055/s-0028-1102915
Editorial

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Editorial

S. Scharrer 1 , J. Körkel 1
  • 1Evangelische Fachhochschule Nürnberg, Fachbereich Sozialwesen, Nürnberg
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Publication Date:
12 December 2008 (online)

Diejenigen, die in der Suchtarbeit tätig sind, greifen über die angestrebten Behandlungsziele (oder Präventionsziele) und die zu diesem Zweck eingesetzten Behandlungsverfahren/-methoden in das Leben von Menschen ein. Bei allen diesen Ziel- und Methodenfestlegungen kann die Begründungsfrage gestellt werden: Warum soll das so gemacht, warum soll das gewollt werden? Also etwa: Warum soll Abstinenz Ziel einer Sucht-Rehabilitationsmaßnahme sein? Warum sollen in dieser Behandlung auch traumatische Lebenserfahrungen (z. B. sexueller Missbrauch) ,aufgearbeitet‘ werden – und warum soll das der Rentenversicherungsträger bezahlen? Warum soll begleitend zur ärztlichen Substitutionsbehandlung eine psychosoziale Betreuung erfolgen? Warum soll ein Patient, der während der stationären Behandlung rückfällig ist, (nicht) weiterbehandelt werden? Warum soll sich ein Patient während einer Alkoholentwöhnungsbehandlung auch noch seinen Zigarettenkonsum abgewöhnen? Warum soll ein substituierter Patient völlig suchtmittelfrei leben (auch von Zigaretten?)? Die Warum-Frage lässt sich im Übrigen auf Haus- und Behandlungsordnungen von Suchthilfeeinrichtungen übertragen, da diese einen wertbesetzten, normativen Hintergrund aufweisen (z. B. „Das Rauchen während des Frühsports ist untersagt!”).

Das Anwendungsfeld der Ethik geht bei der Suchtthematik aber weit über die Begründung des Alltagshandelns hinaus und in grundsätzliche Fragen, wie etwa die folgende, über: Warum sollten illegale Drogen auch zukünftig nicht freigegeben – und legale (sofern schädigende) Drogen weiterhin nicht verboten werden? usw.

Alle diese Sollens-Reflexionen sind der Ethik zuzurechnen. Die Ethik strebt in methodisch systematisierter Form an, die wesentlichen, auch die auf den ersten Blick oft nicht sichtbaren Ziele suchttherapeutischen/-präventiven Handelns aufzudecken und zu ordnen, die Vereinbarkeit der Ziele untereinander zu prüfen, die Werte, die den Zielen zugrunde liegen, herauszuarbeiten, die Tauglichkeit der Methoden zur Zielerreichung kritisch zu prüfen u. a. m. Letztlich geht es bei der Ethik ganz entscheidend um die Aufdeckung des Menschenbildes, das dem (behandelnden) Umgang mit Suchtmittelkonsumenten zugrunde liegt.

Vor diesem Hintergrund ist es erstaunlich, dass ethische Fragen im Suchtbereich – trotz der verbreiteten medizinethischen Diskussionen – noch relativ selten diskutiert werden. Das vorliegende Heft der „Suchttherapie” möchte mittels mehrerer Beiträge, die ganz unterschiedliche ethische Positionen beziehen, zu dieser Diskussion beitragen.

In einem Übersichtsartikel führt Siegfried Scharrer anhand eines Falls in die Methoden der modernen Ethik ein, stellt drei Menschenbilder dar und entfaltet eine Theorie ethischen Handelns. Daneben hinterfragt er das ethisch-ökonomische Problem der „Kundenorientierung” und erörtert das Nichtschadensprinzip, die Legitimation von Selbstschädigung und den Schutz der Menschen, die ihre Autonomie nicht wahrnehmen können.

Rainer Ullmann schildert, von Forschungsergebnissen zur Heroinbehandlung ausgehend, die Arbeit eines Suchtmediziners in der Substitutionsbehandlung, der sich dabei immer in einer Grauzone des (Un-)Rechts bewegt. Er stellt die moralische Frage, was des höheren Schutzes bedarf: der Erhalt des Lebens oder die Einhaltung des Rechts?

Dies führt gleichsam ,not‘-gedrungen zur wichtigen Auseinandersetzung um die Freigabe illegaler Drogen. Peter Raschke (pro Freigabe) und Klaus Weber (kontra Freigabe) haben sich dieser schwierigen Debatte gewidmet und tauschen eine Fülle an Argumenten aus, die für bzw. gegen eine Freigabe bislang illegalisierter Drogen sprechen. Die Leserschaft wird durch diese Gegenüberstellung selbst herausgefordert zu erkennen, wo empirisch gesicherte Daten vorliegen und in die Argumentation eingehen (und wo nicht) oder wo Vermutungen eine Rolle spielen und wie diese begründet werden. Es stellt sich auch in diesem Kontext die Frage nach den dahinterliegenden Menschenbildern, und dabei zentral die Frage: Was heißt „Auto-nomie”? Wo hat die Selbstbestimmung ihren Grund und wo hat sie ihre Grenze? Und wer setzt diese mit welchem Recht und welcher ethischen Legitimation?

Im Beitrag von Alfred Uhl wird in kritischer Weise der immer wieder aufkommende „Paternalismus” in der Suchtprävention, der sich zuweilen auf sogenannte „evidenzbasierte Politik” beruft, einer emanzipatorischen Suchtprävention gegenübergestellt. Diese beiden Positionen werden zugleich in einen internationalen Kontext gestellt. Auch im Rahmen der Gegenüberstellung von „Paternalismus” und „Emanzipation” taucht wieder die Grundsatzfrage auf, hier als Ziel der Suchtprävention: Was heißt eigentlich „Autonomie”?

Joachim Körkel arbeitet in seinem Beitrag ethische Aspekte des derzeitigen „en-vogue-Ansatzes” der Gesprächsführung, des Motivational-Interviewing (MI), heraus. Er benennt die Autonomie des Patienten als zentrale ethische Prämisse des MI, gegen die allerdings bei der Festlegung der Behandlungsziele oftmals verstoßen wird. Daneben wird auf die fehlende Ableitungsklarheit und Präzisierung der Menschenbildannahmen im MI hingewiesen.

Die Herausgeber möchten mit den Beiträgen dieses Heftes eine verstärkte ethische Reflexion des suchttherapeutischen/-präventiven Handelns, aber auch übergreifender gesellschaftlicher Positionen (z. B. zur Freigabe illegaler Drogen) anregen.

Korrespondenzadresse

Prof. Dr. S. Scharrer
Prof. Dr. J. Körkel

Evangelische Fachhochschule

Fachbereich Sozialwesen

Bärenschanzstr. 4

90429 Nürnberg

Email: siegfried.scharrer@evfh-nuernberg.de

Email: joachim.koerkel@evfh-nuernberg.de