Balint Journal 2009; 10(1): 11-18
DOI: 10.1055/s-0028-1098753
Originalarbeit

© Georg Thieme Verlag Stuttgart ˙ New York

Der Strukturwandel und die Erosion des gesellschaftlichen Zusammenhaltes als Herausforderung für die Balintarbeit[1]

Teil 2Structural Change and the Erosion of Social Change on the Margins of Society as a Challenge for Balint WorkPart 2E. R. Petzold, A. Doering-Manteuffel
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Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
05. März 2009 (online)

Zusammenfassung

Die heute angestrebte größtmögliche Wirksamkeit des digitalen Finanzmarkt-Kapitalismus trägt in sich „Supergau-Potenzial”. Die Gegenwartsschrumpfung übersetzt sich für den Einzelnen in Bindungsverlust und Entwicklungsblockaden. In der Arzt-Patient-Beziehung werden diese Prozesse konkret, in der Balintarbeit werden sie permanent reflektiert. Die Zunahme psychischer und psychosomatischer Erkrankungen ist sichtbarer Ausdruck dieses Prozesses. Negationen, Anpassungsdruck und Gegenwartsschrumpfung haben im digitalen Zeitalter gesellschaftliche Konsequenzen für Lebensentwürfe und Überlebensstrategien, auf Bindung und Entwicklung, für Vertrauen und Misstrauen. Mit Kontrollen, Qualitätssicherungen und Evaluationen wird Misstrauen kaum zu bannen sein. Evaluation ist das Schlüsselwort unserer Zeit, hinter dem sich ein ungeheures Kontrollbedürfnis versteckt. Der Mensch aber verkümmert daneben zu einer vernachlässigbaren Größe oder Luxusfrage. „Dafür haben wir keine Zeit!“ Gesundheit, Lebensqualität, Überlebensfähigkeit hängen aber aufs Engste mit Fragen der Salutogenese, dem Sense of Coherence und der Ethik der Nachhaltigkeit zusammen. Die „Erosion des gesellschaftlichen Zusammenhalts“ und der Strukturwandel haben den 6. Kondratieff-Zyklus erreicht, also den Gesundheitsmarkt mit dem größten Veränderungspotenzial unserer Gegenwart. Sie machen keinen Halt vor dem Individuum und auch nicht vor dem medizinischen Bereich. Das Leben selbst und somit wir alle sind auf Strukturwandel angewiesen, allein schon aus dem uns allen angeborenen, also immanenten Überlebenswunsch.

Abstract

Today’s striving for the greatest possible effectiveness of digital (or cyber-)capitalism is so dangerous, that we should think of it in terms of a worst-case scenario (MCA, maximum credible accident). The contraction of the present (the loss of a time-space perspective) translates for the individual into a loss of attachment and a blockage of development. We find these processes in doctor-patient relationships and they are a continuous subject of reflection in Balint Work. The increasing prevalence of psychic and psychosomatic illnesses are tangible expressions of these processes. Attachment and development as well as trust and distrust are the topics of the future. Can we ward off distrust and strengthen trust by means of controlling, quality management and evaluation? Evaluation is a key concept in our time, behind which is concealed an enormous need for control. Trust is a very different matter. Human beings shrivel to insignificance. “There’s no time for that!” Health and sanity, quality of life and the ability to survive all depend to a great extent on questions of salutogenesis, a sense of coherence and the ethic of sustainability. The “erosion of social cohesion” and structural change have now reached Kondratieff’s Sixth Cycle, where the health market offers the greatest potential for change in our time. This erosion and structural change show no concern either for individuals or for the medical profession. Life itself and consequently all of us are dependent on structural change if for no other reason than our inborn and immanent desire to survive.

1 Das war unsere Annahme, als wir im Frühjahr 2008 diese Arbeit ahnend besprachen. Inzwischen ist der Supergau eingetreten. Wir beginnen die Folgen zu sehen. Was werden wir ändern?

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1 Das war unsere Annahme, als wir im Frühjahr 2008 diese Arbeit ahnend besprachen. Inzwischen ist der Supergau eingetreten. Wir beginnen die Folgen zu sehen. Was werden wir ändern?

2 Mit den von ihm so benannten pathischen Hilfsverben von müssen und sollen, von können, mögen und dürfen sowie ihren Verneinungen: Das „muss ich nicht, das soll ich nicht, das kann, mag oder darf ich nicht“ konstruierte er das, was er dann ein „pathisches Pentagramm“ nannte – eine vorzügliche Hilfskonstruktion für menschliches Fühlen, Denken und Handeln.

Prof. Dr. med. E. R. Petzold

Goethestraße 5

72127 Kusterdingen

eMail: erpetzold@gmx.de

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