Gesundheitswesen 2024; 86(12): 757-760
DOI: 10.1055/a-2418-2896
Editorial

COVID-19 Aufarbeitung: Wahrheit, Versöhnung und Entwicklung, nicht Abrechnung

Manfred Wildner

Mit Bewunderung wurde der weitgehend gewaltfreie Weg Indiens aus einer Kronkolonie Großbritanniens in die Freiheit einer souveränen und in weiten Teilen geeinten Nation weltweit aufgenommen: Indien wird heute als die größte Demokratie der Welt mit Wertschätzung betrachtet. Eine wesentliche Rolle hatte dabei Mohandas Karamchand Gandhi, von Churchill als „miserable little old man“ verspottet, von seiner indischen Nation als Mahatma – „große Seele“ geehrt [1]. Die Teilung in das überwiegend hinduistische heutige Indien und das mehrheitlich muslimische Pakistan hatte er vergeblich zu verhindern versucht, immerhin gelang ihm die rasche Eindämmung der Unruhen danach. Die Grundsätze seiner erfolgreichen Arbeit entlehnte er den alten vedischen Schriften des vorchristlichen Jahrtausends. Sein persönlicher Leitspruch Satyam eva jayate – „Die Wahrheit allein obsiegt“ aus der Mundaka-Upanishad wurde auch zum Leitspruch des modernen Indiens [2]. Das beharrliche Festhalten an der Wahrheit in Gewaltlosigkeit als Weg zu politischer wie individueller Selbstbestimmung hat auch die späteren „Wahrheits- und Versöhnungskommissionen“ in den innenpolitischen Einigungsprozessen der zerrissenen Staaten Südamerikas und in Südafrika inspiriert. Ziel war die Erarbeitung eines gemeinsamen Verständnisses der tatsächlichen Sachverhalte gerade auch hinsichtlich der begangenen Gräuel, nicht deren rechtliche Ahndung: Die Wahrheit ist die Zuflucht der Schwachen, Macht setzt sich gerne über sie hinweg.



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Article published online:
05 December 2024

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