Dtsch Med Wochenschr 2024; 149(19): 1126-1127
DOI: 10.1055/a-2311-0649
Aktuell publiziert

Kommentar zu „Gesundes Altern: Ergebnisse einer Netzwerk-Metaanalyse“

Contributor(s):
Maria Cristina Polidori Nelles
,
Michael Denkinger

Die jüngste Veröffentlichung „Community based complex interventions to sustain independence in older people: systematic review and network meta-analysis“ von Crocker et al. [1] berichtet über die Ergebnisse einer Metaanalyse, mit dem Ziel, die Wirksamkeit von regionalen, ambulanten und komplexen Interventionen zur Erhaltung der Unabhängigkeit älterer Menschen zu bewerten. Nach den Einschlusskriterien umfasste die Metaanalyse 129 randomisierte kontrollierte Studien oder randomisierte kontrollierte Clusterstudien aus den wichtigsten medizinischen Datenbanken, bei 74 946 zu Hause lebenden älteren Menschen (Durchschnittsalter ≥65 Jahre) mit einer Nachbeobachtungszeit von ≥24 Wochen. Es wurden die übliche Pflege, Placebo oder eine andere komplexe Intervention als Vergleich herangezogen. Die Endpunkte umfassten das Leben zu Hause, Aktivitäten des täglichen Lebens, Leben in einem Pflegeheim und gesundheitsökonomische Ergebnisse nach 12 Monaten. Die Interventionen wurden nach einer selbstentwickelten Typologie eingruppiert. Für die Netzwerk-Metaanalyse wurden eine strukturierte Bewertung des Verzerrungsrisikos nach dem überarbeiteten Cochrane-Tool (RoB 2) sowie die GRADE-Kriterien (Grading of Recommendations Assessment, Development and Evaluation) herangezogen.

Crocker et al. identifizierten 19 Interventionskomponenten, darunter „multifaktorielle Maßnahmen aus der individualisierten Pflegeplanung“. Von diesen multifaktoriellen Maßnahmen, die einem Prozess der Bewertung und des Managements in mehreren Bereichen entsprechen, der zu maßgeschneiderten Maßnahmen führt, wurden 63 Kombinationen identifiziert, die gegen keine Intervention oder Placebo getestet wurden. Eine moderate Sicherheit der Evidenz konnte für Interventionen für das Leben zu Hause und die instrumentellen Aktivitäten des täglichen Lebens gefunden werden. Hier waren multifaktorielle Maßnahmen im Rahmen der individuellen Pflegeplanung – einschließlich der Überprüfung der Medikation und regelmäßiger Routine Nachuntersuchungen (Odds Ratio 1,22; 95%-Konfidenzintervall 0,93–1,59 und für IADL Odds Ratio 0,11; 0,00–0,21) wirksam. Dasselbe ohne regelmäßige Nachuntersuchungen zeigte eine geringere Sicherheit (Odds Ratio 2,55; 0,61–10,60). Kombiniertes kognitives Training, Medikamenten-Überprüfung, Ernährungsunterstützung und Bewegung (Odds Ratio 1,93; 0,79–4,77) hatte ebenso wie kombiniertes Training für Aktivitäten des täglichen Lebens, Ernährungsunterstützung und Bewegung (Odds Ratio 1,79; 0,67–4,76) eine geringe Sicherheit der Evidenz, war aber ebenfalls tendenziell wirksam. Für die basalen Aktivitäten des täglichen Lebens waren eine Kombination aus Bewegung, multifaktoriellen Maßnahmen aus der individuellen Pflegeplanung und einer Routineüberprüfung mit Medikamenten-Überprüfung mit und ohne Selbstmanagement-Strategien wirksam (Odds Ratio 0,16; -0,51–0,82 bzw. ohne Selbstmanagement Odds Ratio 0,60; 0,32–0,88) bei jeweils geringer Sicherheit.

Trotz des hohen Verzerrungsrisikos aufgrund der (sehr) geringen Sicherheit der Evidenz, Inkonsistenz und Schwierigkeiten bei der Bewertung von Frailty, kamen die Autoren zu dem Schluss, dass die Intervention, die am ehesten zur Aufrechterhaltung der Selbstständigkeit beiträgt, eine individuelle (Pflege)planung ist, die eine Optimierung der Medikamente und regelmäßige Nachuntersuchungen einschließt und zu multifaktoriellen Maßnahmen (inklusive Bewegungsinterventionen) führt. Menschen, die häuslich gepflegt werden (professionell und durch Laienhilfe), können von dieser Maßnahme besonders profitieren. Unerwarteterweise fand die renommierte Expertengruppe bei einigen Kombinationen einen gegenläufigen Zusammenhang mit den instrumentellen Aktivitäten des täglichen Lebens.

Dennoch verdeutlicht diese Analyse das große Potenzial komplexer Interventionen für die Erhaltung der funktionalen Integrität zu Hause lebender älterer Menschen – im Sinne einer Kompression der Lebenszeit mit funktionellen Einschränkungen – und passt zu den Ergebnissen bei hospitalisierten Patienten zur Wirksamkeit multidimensionaler Interventionen, die auf einem umfassenden geriatrischen Assessment (CGA) basieren [2]. Sie zeigt auch eines sehr deutlich: Wenn komplexe Interventionen bei (gebrechlichen/frail) älteren Menschen funktionieren, dann nur, wenn sie wirklich multifaktoriell angelegt sind und v.a., wenn Ernährung, körperliches Training und ein Medikationsreview kombiniert werden. Komplexe und multifaktorielle Interventionen benötigen aber auch ein multifaktorielles Assessment für Diagnostik und Monitoring. Ein wichtiger aktueller Schritt in Deutschland ist deshalb sicherlich auch die bevorstehende erste AWMF-S3-Leitlinie „Umfassendes Geriatrisches Assessment im Krankenhaus“ [3]. In Anbetracht der rasch steigenden Anzahl Hochbetagter und der damit zusammenhängenden ansteigenden Prävalenz von Multimorbidität und Frailty weltweit [4] ist es sehr wichtig, dass solche Strategien zum Erhalt der Autonomie und des Living-in-place validiert und umgesetzt werden. Die Studie zeigt aber auch die Notwendigkeit weiterer, qualitativ hochwertiger Studien: mit klar definierten, strukturierten und standardisierten Algorithmen (CGA → Intervention), um einen Goldstandard für komplexe Interventionen mit älteren Menschen ambulant, ebenso wie stationär, weiterzuentwickeln.



Publication History

Article published online:
09 September 2024

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