Psychiatr Prax 2024; 51(01): 54-55
DOI: 10.1055/a-2209-5329
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Psychiatrie ohne Zwang – der große Wurf?

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Unambitionierte traditionelle Psychiater wie der Unterzeichner versuchen seit längerem, Zwang in der Psychiatrie zu reduzieren mittels der Entwicklung von Leitlinien und Ähnlichem. Praktische Erfolge bleiben dabei jedoch weltweit bisher überschaubar. Das befördert die Entstehung anderer, in gewisser Weise radikalerer Sichtweisen. Die Forderung „hört doch einfach damit auf und verbietet es!“ (elimination of coercive practices) kommt nicht mehr nur von Psychiatrie-Erfahrenen, sondern inzwischen auch von einem Komitee der Vereinten Nationen, der Weltgesundheitsorganisation und einigen Professionellen. Die häufig holzschnittartig und ideologisch geführte Debatte hat jetzt mit dem neu erschienen Buch von Dirk Richter eine intellektuelle Stimme und einen weitgespannten theoretischen Überbau erhalten. Richter ist nicht nur forschender Soziologe in der Psychiatrie, er war auch lange Zeit Qualitätsmanager einer psychiatrischen Großklinik und hat früher auch einmal als gelernter Krankenpfleger in der Psychiatrie gearbeitet. Anders als bei manch anderen Wortführern darf man ihm also durchaus unterstellen, dass er weiß, wovon er spricht. In seinem Buch entfaltet er ein vielschichtiges und facettenreiches Argumentationsgebäude, mit dem er die These untermauern möchte, dass die Anwendung von Zwang in der Psychiatrie nicht zu rechtfertigen ist. Richter ist intellektuell und rhetorisch brillant, im interdisziplinären Diskurs belesen wie nur wenige in der gesamten psychiatrischen Szene; gerne weiter ausholend vermag er zahllose Metaanalysen, Übersichtsarbeiten und aktuelle Diskurse nicht nur in der Soziologie, sondern auch in der Neurobiologie und Philosophie anzuführen. Die Essenz der Ausführungen kann man vielleicht wie folgt zusammenfassen: Es besteht wissenschaftlich keine Einigkeit, ob es so etwas wie eine „Psyche“ überhaupt gibt. Damit ist grundsätzlich das historisch entstandene medizinische Konzept „psychischer Krankheiten“ bereits fragwürdig. Besser würde man neutral von „psychosozialen Problemen“ sprechen. „Psychische Krankheiten“ sind weder objektiv zu diagnostizieren noch sicher voneinander abzugrenzen, eine klare Grenze zu Gesundheit oder Normalität gibt es nicht. Auch sind gemäß vorliegender Evidenz die allermeisten der verfügbaren Behandlungen allenfalls schwach wirksam und nicht geeignet, die bestehenden psychosozialen Probleme zu lösen bzw. die postulierten Krankheiten zu „heilen“. Folglich ist die Anwendung von Zwang, um derartige Behandlungsformen zur Anwendung zu bringen, nicht zu rechtfertigen. Danach entwickelt er die Vision einer Psychiatrie mit „Menschenrechten als Basis“, die konkreter ausfällt und sich weitergehend mit den entstehenden Problemen auseinandersetzt, als dies bisher im häufig ideologisch geführten „menschenrechtlichen Diskurs“ der Fall war.

Steile Thesen, die öffentliche Aufmerksamkeit und häufige Zitationen sichern, solide wissenschaftlich zu unterlegen, ist zweifellos das wünschenswerte Vorgehen. Mag man sich den Schlussfolgerungen von Richter nicht anschließen, wird man die Schwachstellen in den aufgetürmten Regalen voller Argumente identifizieren müssen. Vielleicht als erstes: Die große klaffende Leerstelle in diesen Regalen ist das Bundesverfassungsgericht. Es hat sich mit der Thematik seit 2011 mehrfach befasst, 2018 sogar mehrtägig mit der Anhörung zahlreicher Experten. Es hat dazu diverse sehr ausführlich und gut nachvollziehbar begründete Entscheidungen getroffen, die jeweils auch die Vereinbarkeit von Zwangsmaßnahmen verschiedener Art mit der UN-Behindertenrechtskonvention ausführlich diskutieren. Selbstverständlich kennt Richter auch diese Urteilte; er lässt sie freilich, wie alle Aktivisten auf diesem Gebiet, gänzlich unerwähnt, weil sie zu gegenteiligen Ergebnissen gelangt sind. Gerade aus rechtlicher Sicht wirken einige Argumente ein wenig wie rhetorische Taschenspielertricks, etwa in dem Sinne „man kann doch nicht Steuerbetrug bestrafen, solange wissenschaftlich nicht geklärt ist, ob es überhaupt einen freien Willen gibt“. Das Problem ist hier die Vermischung verschiedener Abstraktionsebenen. Probleme auf einer sehr pragmatischen alltäglichen Handlungsebene lassen sich nicht auf einer sehr viel höheren Abstraktionsebene lösen oder wegdiskutieren, wie man bei so vielen politischen Problemstellungen ständig beobachten kann. Vieles, was Richter ausführlich darlegt, so etwa die fehlende Validität psychiatrischer Diagnosen bei durch die bekannten Diagnosesysteme nur sichergestellter Reliabilität oder der starke Einfluss sozialer Faktoren auf psychiatrische Problemstellungen ist zweifellos richtig, aber auch unter Fachleuten praktisch unbestritten und dennoch nicht geeignet, die praktischen Probleme wegzuerklären. Dadurch, dass in dem Buch der ganz große Wurf versucht wird, jeglicher Form der Anwendung von Zwang unter allen Umständen die Legitimation zu entziehen, wird die Argumentation häufig unscharf. So ist der berechtigte Hinweis auf Metaanalysen zur sehr limitierten Wirkung von Antidepressiva mit der Schlussfolgerung, dass angesichts dessen eine Zwangsbehandlung nicht zu rechtfertigen sei, nicht zielführend. Zum einen dürfte eine Zwangsbehandlung mit Antidepressiva vermutlich nie vorkommen, zum anderen hat das etwa mit einer Fixierung oder gerichtlichen Unterbringung zur Gefahrenabwehr bei Fremdgefährdung nichts zu tun. Es ist eben so auch nicht richtig, dass „die Vereinten Nationen“ eine Abschaffung aller Gesetze fordern, die unter bestimmten Umständen die Anwendung von Zwang bei Menschen mit psychischen Erkrankungen ermöglichen. Es ist die Agenda eines Komitees, jedoch haben die Vereinten Nationen viele Komitees und Ausschüsse und es werden dort auch ganz andere Positionen vertreten. Auch die Hinweise auf eine unbestritten notwendige Verbesserung der ambulanten und gemeindepsychiatrischen Behandlung helfen bezüglich der Forderung nach nicht nur Reduzierung, sondern völliger Abschaffung von Zwangsmaßnahmen nicht weiter, zumal es keinerlei Evidenz gibt (um auf dieser Ebene zu bleiben), dass dies irgendwo das Problem lösen würde. Ein ganz wesentliches Problem, das Richter mit allen Verfechtern des „menschenrechtlichen Ansatzes“ gemein hat, ist die extreme Simplifizierung oder eher gar eigentlich Verleugnung jeglicher psychiatrischer Expertise. Wenn man global jegliche Art psychischer Störung als „psychosoziales Problem“ behandelt (weil eine weitere Differenzierung wissenschaftlich ohnehin nicht sicher möglich sei), erklärt man psychiatrische Diagnostik und Psychopathologie und damit die gewonnenen Erkenntnisse der letzten 200 Jahre eigentlich als bedeutungslos. Das wird leicht erkennbar verschiedenen praktischen Problemlagen nicht gerecht. In argumentative Schwierigkeiten gerät Richter deshalb bei der auch ausführlich behandelten Problematik des Suizids. Eingehend argumentiert er, dass auch psychisch kranken Menschen das Recht auf eine freie Suizidentscheidung nicht grundsätzlich verwehrt werden dürfe. Das bestreitet freilich auch niemand mehr, zumindest nicht seit dem wegweisenden Urteil des Bundesverfassungsgerichts. Es ist aber keine ausreichende Antwort auf die Problemstellung wahnhaft suizidaler Menschen, die sich nach erfolgter Behandlung häufig dauerhaft von ihren Suizidwünschen distanzieren und gerne weiterleben. An dieser Stelle kommt eben doch die sorgfältige psychopathologische Beurteilung ins Spiel, die auch das Bundesverfassungsgericht indirekt eingefordert hat. Das Argument, dass eine sichere Trennung von „einwilligungsfähig“ und „einwilligungsunfähig“ wissenschaftlich nicht möglich sei, verfängt nicht. Die Problemstellung der notwendigen Übersetzung dimensionaler medizinischer Sachverhalte in dichotome juristische Kategorien ergibt sich an vielen Stellen und ist unvermeidbar, sie existiert so auch in vielen Bereichen des Lebens. So sind empirisch Menschen im Alter von 17 Jahren und 11 Monaten und solche mit 18 Jahren in anderen Merkmalen als dem Alter nicht sicher zu unterscheiden. Dennoch gibt es gute pragmatische Gründe, am Konzept der Volljährigkeit, auch als Voraussetzung zum Beispiel für Geschäftsfähigkeit, festzuhalten.

Richters Entwurf einer zukünftigen Psychiatrie „auf der Basis der Menschenrechte“ zeigt, dass er sich mit vielen Gegenargumenten auseinandergesetzt hat. Vieles, was er zuvor recht apodiktisch behauptet hat, relativiert er hier wieder vorsichtig, zum Beispiel gerade im Umgang mit Selbst- und Fremdgefährdung. Hatte er (S. 126) zuvor geschrieben „in einer menschenrechtsbasierten Psychiatrie sollte es zukünftig nicht primär darum gehen, Risiken zu vermeiden, sondern Risiken unter Umständen bewusst einzugehen und aus allfälligen Problemen und Fehlern zu lernen“, konzediert er die sich daraus ergebenden Risiken (konkret wohl absehbar Haftung für Todesfälle) später doch bis zu einem gewissen Grade und schlägt für Fremdgefährdung eine „Quarantänelösung“ vor (wobei Einsperren ohne Behandlung aus der Sicht vieler Professioneller gerade menschenrechtlich außerordentlich problematisch erscheint und dann in manchen Fällen womöglich erst recht unbefristet erfolgen müsste). In die Zukunft schauend, postuliert er ein Stufenmodell der Psychiatrie, die sich von „Menschenrechte missachtend“ (früher) zu „Menschenrechte berücksichtigend“ (heute) in Richtung „Menschenrechte als Basis“ (in Zukunft) entwickeln müsse. Dies ähnelt allerdings doch sehr der gleichzeitig von ihm völlig zu Recht kritisierten Stufenleiter der „Rehabilitationskette“ oder dem zwangsläufigen Fortschritt zu einer klassenlosen Gesellschaft. Kern des vorgeschlagenen „menschrechtsbasierten Ansatzes“ ist, dass Menschen letztlich selbst definieren sollen, ob sie sich als „krank“ ansehen und Hilfe in Anspruch nehmen möchten. Im angeführten Beispiel leichterer autistischer Störungen passt das gut. Die Selbstkonzeption als „neurodivers“ (statt krank oder behindert) ist in vielen Fällen sicher eine angemessene Alternative und auch unter heutigen Bedingungen realisierbar. Für schwere, mit Intelligenzminderung einhergehende autistische Störungen dürfte es dagegen kaum passen, ebenso wenig für die fortschreitende Demenz. Der Hinweis, dass an Demenz erkrankte Personen Vorausverfügungen abschließen sollten (bzw. sollen hätten), wird das Problem nicht lösen. In der Qualität der intellektuellen Ausarbeitung des Ansatzes hat Richter ein Alleinstellungsmerkmal. Darin, dass er ein Konzept einer idealen Welt aus der Sicht einer bestimmten Personengruppe entwirft, das aber leider nicht anschlussfähig ist für alle, hat er reichlich Gesellschaft. So gesehen erweist sich die strikte „Menschenrechtsorientierung“ als ein doch recht kühler Ansatz, der sich unter dem Siegel von Freiheit und Menschenrechten anschicken möchte, elementare Grundzüge von mitmenschlicher Solidarität gerade für Menschen mit sehr schwerwiegenden und andauernden „psychosozialen Problemen“ zur Disposition zu stellen. Sehr schnell wird man dann von den Fragen der Menschenrechte vor allem zur Frage der Menschenwürde gelangen. Dennoch ein sehr kenntnisreiches, intellektuell inspirierendes und herausforderndes Buch.

Tilman Steinert, Weißenau

tilman.steinert@zfp-zentrum.de



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Article published online:
15 January 2024

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