Balint Journal 2023; 24(02): 53-58
DOI: 10.1055/a-2134-7003
Deutscher Balint Preis

Deutscher Studenten Balintpreis 2023

Endlich Zuhause
David Friedrich Rau

Exposition

Die Blätter des großen Kirschbaums haben sich orange-rötlich gefärbt. Sie schweben zu Boden. Ich beobachte sie dabei. Mein Blick schweift über den großen Garten. Ich sitze in meinem ehemaligen Kinderzimmer in der Kleinstadt, in der ich aufgewachsen bin. Hier verbringe ich den meisten Teil meiner Lernzeit für das dritte Staatsexamen. In dieser großen Ruhe habe ich die nötige Konzentration zum Arbeiten. Es ist Oktober. Viel zu warm für diese Jahreszeit. Der Sommer und damit mein Praktisches Jahr liegen hinter mir. Mein Studium neigt sich dem Ende zu und langsam schaue ich Richtung Weihnachten, dem Zeitpunkt, an dem ich nach sieben Jahren nun endlich Arzt sein werde. Als Kind habe ich gern die französische Zeichentrickserie „Weihnachtsmann und Co. KG“ geschaut, die jedes Jahr seit 20 Jahren regelmäßig zum Fest ausgestrahlt wird. Eine Art „Dinner for One“ oder „Drei Haselnüsse für Aschenbrödel“ für viele in meiner Generation. Und doch ist es nicht nur die Verbindung zu meiner kindlichen Vergangenheit, mein altes Zimmer und der nahende Winter, die diese Erinnerung wachrufen. Denn zur Co. KG des Weihnachtsmanns gehört in der Serie auch „Grantelbart“. Und an ihn habe ich bereits im letzten Sommer im PJ gedacht:

In meinem letzten PJ-Tertial habe ich viel Zeit auf der Intensiv-Station verbracht. Aufgrund des allgegenwärtigen Personalmangels wurde auch hier die Zahl der Betten enorm reduziert. Verschärft wurde die Situation durch den prekären Status eines Kreiskrankenhauses in einer relativ strukturschwachen Region. Die verbliebenen ärztlichen und pflegerischen KollegInnen arbeiteten wie fast überall an und über ihrem Belastungslimit. Die Grundstimmung war angespannt bis resigniert.

Gegen Ende der morgendlichen Visite nahm mich ein Arzt beiseite. Der Herr im nächsten Zimmer sei, was man einen schwierigen Patienten nenne. Er habe einen Haufen an Diagnosen. Er lehne alles außer supportiven Maßnahmen ab. Zusätzlich sei er ein wenig speziell, was ich gleich merken würde.

Wir betraten das Zweibettzimmer. Allein, hinter dem blauen Raumtrenner, lag der Patient, den wir visitieren wollten. Er trug eine Sauerstoffbrille, dafür aber kein Oberteil. Sein langer zersauster grauer Bart fiel auf den dicken Bauch, der sich über die nach unten geschobene Bettdecke wölbte. Darunter lugten die Zehen hervor, unter deren brüchigen Nägeln sich ein dunkler Schmutzfilm gesammelt hatte. Der Blick des Mannes war unverwandt auf den Fernseher gerichtet, der über seinem Bett angebracht war. Aus seinen Kopfhörern knarzte das Vormittagsprogramm. Mein Blick richtete sich auf den Nachttisch, auf dem zahlreiche, teilweise geleerte, Colaflaschen standen. Eine Pflegekraft kämpfte mit dem Chaos am Bett, während sie die Elektroden für das EKG auf seiner Brust befestigte. Es schien den Patienten nicht aus seiner Ruhe zu bringen.

„Guten Morgen. Wie geht es Ihnen heute?“, begann mein Kollege das Gespräch.

„Ich will nach Hause“, erwiderte der Mann. Er wirkte trotz der Schwere seines Krankheitszustandes recht vital. Seine kräftigen Arme lagen ruhig an seinen Seiten.

„Wir können Sie gern in wenigen Tagen entlassen, wir würden allerdings gerne erst ein paar Untersuchungen abwarten. Haben Sie in der Zwischenzeit nochmal über die Medikation nachgedacht?“

„Ich will heute nach Hause.“

Das Gespräch setzte sich auf diese Art und Weise noch eine Weile fort. Trotz der mehrfachen Betonung der guten Behandelbarkeit der Grunderkrankung und der großen Wahrscheinlichkeit zu sterben bei fehlender Medikation, beharrte unser Patient auf seinem Entlassungswunsch.

Schließlich, am Ende des Gesprächs vereinbarten die beiden, dass eine Entlassung gegen ärztlichen Rat noch am gleichen Tag erfolgen sollte.

Wir verließen das Zimmer. Ich ließ die Situation hinter mir und dachte zunächst nicht mehr viel darüber nach. Viele Blutentnahmen und meine anderen Tätigkeiten als PJler nahmen mich für den Rest des Tages in Anspruch.

Entsprechend überrascht war ich, als ich bei der chefärztlichen Visite am nächsten Tag feststellte, dass der Patient weiterhin allein in seinem Zweibettzimmer auf der Intensivstation lag. Bei der Whiteboard-Besprechung klärte sich die Situation für mich etwas auf: Nachdem wir am Vortag unsere Visite beendet hatten, hatte der Mann versucht, auf die Beine zu kommen und das Krankenhaus fußläufig zu verlassen. Nach einigen Metern hatten sein Kräfte versagt. Unter großem Schnaufen und zahlreichen Kraftausdrücken hatte sich seine Krankheit schließlich durchgesetzt. Drei Pflegekräfte brachten ihn in sein Bett zurück.

Daraufhin wurde mit seinem Einverständnis seine Familie kontaktiert. Dies hatte er zuvor mehrfach abgelehnt. Am Nachmittag wurde unser Patient von seinen Kindern besucht. Mit der Tochter entspann sich ein heftiges Streitgespräch. Sie redete ihm heftig ins Gewissen. Denn während es ihr wichtig war, den Vater in bestmöglicher Versorgung zu wissen, bestand er darauf, dass er auf sein Sofa zurückwollte und die Behandlung nicht nötig sei. Viel lieber würde er zuhause fernsehen. Außerdem dürfe er ja im Krankenhaus kein Bier trinken.

In der Konsequenz einigten sich Tochter und Vater darauf, dass er, wenn er schon die kausale Behandlung ablehnte, wenigstens die ergänzenden Maßnahmen zuließe – nun aber auf Normalstation. Die Belegschaft der Intensivstation zeigte sich sehr erleichtert, nicht mehr für ihn zuständig sein zu müssen. Die letzten Tage waren immer angespannter geworden. Mehr als einmal hatte der Patient gerufen, dass die Pflege sich doch „gefälligst verpissen soll“ und er am liebsten komplett in Ruhe gelassen werden wolle.

Über das Wochenende lag unser Patient zusammen mit einem weiteren Erkrankten auf einem Doppelzimmer. Die ganze Zeit über hatte dieser Patient immer wieder geschrien und sich wild hin und her geworfen. Dies erfuhr ich am Montagmorgen durch die diensthabende Stationsärztin. Als ich meinen Dienst morgens begann, war der Patient aber bereits in ein Einzelzimmer verlegt worden. Sein Zustand hatte sich nun akut verschlechtert. Er sei nur noch schwer erweckbar und reagiere nur noch vereinzelt auf Ansprache. In einem Gespräch zwischen zwei Schwestern hörte ich im Vorübergehen den Halbsatz, dass er es nicht mehr lange mache, registrierte es jedoch nicht sofort.

Während ich für die morgendliche Blutentnahmerunde mein Tablett bestückte, fiel mir auf, dass auch für ihn Monovetten vorbereitet worden waren. Die leeren Röhrchen vom Wochenende standen daneben. Wie ich später erfuhr, hatte er die Venenpunktion ebenfalls abgelehnt.

Nun stand ich also vor seiner Zimmertür. Trotz des Wissens über seine Zustandsverschlechterung erwartete ich eine der üblichen Tiraden, die ich schon im Umgang mit den anderen Mitarbeitenden mitbekommen hatte. Dann klopfte ich und trat ein. Wie immer vollzog ich mein gut eingeübtes Prozedere. „Guten Morgen, mein Name ist Rau. Ich bin hier zur Blutentnahme.“ Keine Reaktion. Der Patient lag schwer atmend in seinem Bett. Ich hatte schon häufig mit Patienten zu tun gehabt, die nicht mehr ansprechbar gewesen sind. Deshalb nahm ich mein Material vom Tablett und begann mit der Arbeit. Der Stauschlauch schloss sich wie immer um den Oberarm, der sich jedoch dieses Mal nicht von selber bewegte, sondern von mir mit beiden Händen vom Bett angehoben werden musste. Ich suchte in der Ellenbeuge wie schon so häufig bei anderen Patienten nach einer Vene, doch wurde nicht fündig. Die Haut war blass und kaltschweißig. Selbes Spiel auf der anderen Seite. Nun suchte ich an den beiden Händen. Da, Erfolg! Eine kleine Vene zeigte sich auf dem linken Handrücken. Ich sagte meinen Standardsatz:

„Es wird nun kurz kalt“, und gab zwei Sprühstöße mit meinem Desinfektionsmittel ab.

Keine Reaktion.

Ich zögerte. Sollte ich wirklich zustechen?

Ich entfernte den Stauschlauch und deckte den Patienten wieder zu. Ich schob seine Arme zurück unter die dünne Krankenhausdecke. Dann nahm ich meine Sachen und verließ ihn, ohne einen Nadelstich gesetzt zu haben.

Als ich nach ungefähr anderthalb Stunden meine Runde beendet hatte und zurück zu seinem Zimmer ging, um ein weiteres Mal mein Glück zu versuchen, sah ich ein neues Schild an der Tür.

„Zutritt nur für medizinisches Personal.“

Während ich meine Runde gemacht hatte, war mein Patient verstorben. Der Tod wurde vom Stationsarzt festgestellt. Wahrscheinlich bin ich die letzte Person gewesen, die ihn noch lebend angetroffen hat.

Ich stand noch eine Weile vor der Tür, dann ging ich zum Stationsstützpunkt.



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Article published online:
04 September 2023

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