Krankenhaushygiene up2date 2023; 18(02): 104-106
DOI: 10.1055/a-2062-1568
Editorial

Nach der Pandemie ist vor der Pandemie...

Sebastian Lemmen

Ich dachte mir, ohne den Begriff „Pandemie“ in der Überschrift liest keiner mein Editorial – gefühlt stolpern wir ja von einer Krise in die Nächste, leben sozusagen im Krisendauermodus. Nein, keine neue Virusmutation, nicht vom Vogel, nicht vom Schwein und auch keine neue WHO-Pandemiewarnung mit Stufe 6. Ich meine die vielen multiresistenten Bakterienspezies, die in unseren Krankenhäusern Infektionen verursachen und so bei derselben Risikoklientel wie für COVID-19 – den Alten und Immunsupprimierten – zur Morbidität und Letalität beitragen. Experten fordern daher, dass mit denselben Anstrengungen, die zur Bewältigung der Pandemie notwendig waren und mit den hier neu gewonnen Erkenntnissen, dieses Problem adressiert werden muss [1].

Einfachste Ansätze, Antibiotika zu reduzieren, gäbe es genügend:

  • die reflexartige Therapie des „Nitrit-positiven Harnwegsinfektes“ bei asymptomatischen Patienten, der sich hartnäckig seit vielen Medizinergenerationen hält – man möchte gar nicht wissen, wie der Urin von der Blase in den Becher kommt…; und E. coli sind die häufigsten nachgewiesenen Erreger und Urin ist das am häufigsten untersuchte Material

  • die verlängerte peri-operative Antibiotikaprophylaxe, die in Deutschland nach wie vor in über 60% der Fälle länger als 1 Tag gegeben wird [2]

  • die sofortige Antibiotikagabe (AB-Gabe) nach möglicher Aspiration bei Bewusstlosigkeit, um eine Pneumonie zu vermeiden

  • Antibiotika bei Schlaganfallpatienten, damit kein Fieber entsteht – der natürliche Feind des Neurologen

... und vieles mehr.

Aktuelle Ergebnisse valider Studien empfehlen eine deutlich kürzere Therapiedauer:

  • In einer Metaanalyse von 3 RCTs wurden 7 vs. 14 Tage AB-Therapie – wie noch in vielen Leitlinien empfohlen – bei unkomplizierter Bakteriämie mit gramnegativen Stäbchen (untersucht wurden hier Enterobacterales; Non-Fermenter, wie z. B. P. aeruginosa, wurden nicht eingeschlossen) verglichen: Letalität, Relaps, Komplikationen und unerwünschte Nebenwirkungen waren identisch, unabhängig von Patientenalter, Geschlecht, Infektionslokalisation sowie Immun- und hämodynamischem Status [3].

  • Eine 7-tägige Therapie der Lyme-Borreliose im Frühstadium mit Erythema migrans mit Doxycylin war im Rahmen eines RCTs der aktuell empfohlenen Therapiedauer von 14 Tagen nicht unterlegen: In keiner der beiden Gruppen zeigten Patienten weitere klinische Zeichen einer Lyme-Borreliose und Hautbiopsien blieben negativ [4].

Eine frühe Oralisierung bei Infektionsentitäten, die bisher „lege artis“ ausschließlich intravenös therapiert wurden, wurde inzwischen in Studien untersucht und als gleichwertig erachtet. Man erspart dem Patienten den venösen Zugang, verkürzt den stationären Aufenthalt und beobachtete weniger Nebenwirkungen:

  • Bei Patienten mit einer unkomplizierten S.-aureus-Bakteriämie war nach initialer 7-tägiger i.v. Therapie eine orale Sequenztherapie über ebenfalls 7 Tage einer 14-tägigen i.v. Therapie gleichwertig und sicher; die Letalität und die Relaps-Raten waren nach 90 Tagen identisch [5].

Zu vergleichbaren Ergebnissen kam eine bisher unveröffentlichte deutsche offen randomisierte Studie mit ca. 80 Patienten in beiden Armen [6].

  • Selbst bei Patienten mit Endokarditis – und nicht nur mit Streptokokken – war die orale Sequenztherapie einer ausschließlichen intravenösen Therapie gleichwertig [7].

  • Patienten mit ambulant erworbener Pneumonie, bei welchen bereits nach 3 Tagen bei klinischer Besserung die AB-Therapie oralisiert wurde, hatten bei vergleichbarem klinischen Outcome eine entsprechend kürzere i.v. Gabe und einen kürzeren stationären Aufenthalt [8].

Und dann noch ein ganz anderer und äußerst wichtiger Punkt: Die richtige mikrobiologische Diagnostik zum richtigen Zeitpunkt hilft für die infektiologische Diagnose. Das ist nichts Neues und eine Selbstverständlichkeit in anderen Fachdisziplinen. Stellen Sie sich mal den Kardiologen ohne Herzkatheter oder den Gastroenterologien ohne Ultraschall und Endoskopie vor. Es wurde hierfür der Begriff des „Diagnostic Stewardship“ geprägt. In dieser Ausgabe der Krankenhaushygiene up2date hat Herr Schulz-Stübner zu diesem Thema einen hervorragenden Artikel mit vielen Beispielen und den häufigsten Fehlern geschrieben – wirklich lesenswert.

All das nachzuhalten und im klinischen Alltag zu integrieren, kann nicht von den bei uns bereits etablierten Fachdisziplinen erwartet werden; hier bedarf es speziell ausgebildeter Experten, die sich nur mit infektiologischen Themen und Fragestellungen beschäftigen und die es schon in den meisten anderen Ländern gibt. Es ist daher nur folgerichtig, dass der Deutsche Ärztetag im Jahr 2021 endlich die Weiterbildung zum Facharzt für Innere Medizin und Infektiologie beschlossen hat und die meisten Landesärztekammern inzwischen diesem zugestimmt haben. Wir haben darüber in einer der letzten Ausgaben in der Krankenhaushygiene up2date berichtet. Im Rahmen der Krankenhausstrukturreform wird aktuell auf politischer Bundesebene diskutiert, die Infektiologie als eigenständige Leistungsgruppe abzubilden und so die eigene strukturelle und auch finanzielle Sicherung zu gewährleisten. Ich stelle mir schon eine Zukunft in deutschen Krankenhäusern vor, in denen – bettenführend oder konsiliarisch – klinische Infektiologen und Infektiologinnen wie selbstverständlich eigenverantwortlich die Diagnostik und Therapie von Infektionskrankheiten durchführen. Und wenn jetzt noch ein pragmatischer Krankenhaushygieniker für die Prävention mit an Bord ist, dann möchte man (fast) gerne Patient sein.

Ich wünsche Ihnen jetzt viel Vergnügen beim Blättern und Lesen der aktuellen Ausgabe.

Mit freundlichen Grüßen

Ihr S. Lemmen



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Article published online:
01 June 2023

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