Zeitschrift für Palliativmedizin 2023; 24(01): 18-21
DOI: 10.1055/a-1983-9798
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Doppelkopf: Manfred Baumann und Helen Kohlen

Manfred Baumann

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Wie kamen Sie in Ihr jetziges Tätigkeitsfeld?

Mein Weg war ein bunter und abwechslungsreicher. Ich war der jüngere Bruder einer Schwester mit einer schweren Behinderung. Das hat mich – so sehe ich das heute – sicher früh mit dem Leben von Familien mit einem schwer kranken Kind vertraut werden lassen und auch damit, welche Verantwortung das mit sich bringt. Ich habe meine Eltern immer sehr dafür bewundert, wie liebevoll und geduldig sie auch sehr schwierige Situationen meistern konnten. Nach dem Abitur machte ich ein freiwilliges soziales Jahr in der ambulanten Pflege. Ich habe damals mein Herz für die berufliche Sorge entdeckt – ich erinnere mich an so viel Fröhliches, aber auch manch Schweres in diesem Jahr. Nach dem Studium der Sprachen in Stuttgart studierte ich Ev. Theologie in Erlangen und Tübingen. Die Theologie bot mir die Möglichkeit, mich mit Fragen unseres Seins in dieser Welt, mit Fragen unseres Begrenzt-Seins, unserer Sterblichkeit, mit Fragen von Hoffnung und Trost und was der Grund unseres Lebens ist, zu beschäftigen. Nach dem Examen ging ich auf Reisen und entschied mich dann für eine Ausbildung zum Kranken- und Gesundheitspfleger in Stuttgart. Im letzten Ausbildungsjahr führte uns die Studienreise nach London ins St Christopherʼs Hospice. Das war meine erste Berührung mit der Hospizarbeit und es brachte den Wunsch in mir zum Keimen, selbst einmal in der Hospizarbeit wirken zu dürfen. Nach dem Examen arbeitete ich auf einer hämatologischen Intensivstation, um dann für viele Jahre in Leitungsverantwortung zu gehen – in der Onkologie und Hämatologie, der Nephrologie und der operativen Gynäkologie. In dieser Zeit erkrankte meine Schwester und verstarb nach kurzer Zeit im gerade neu eröffneten Hospiz in Backnang – dieses Hospiz war ein Segen für unsere Familie. In meiner Zeit der Trauer lernte ich, wie es sich anfühlt, sich von einem Team getragen zu fühlen, das versteht, was Sterben und Tod bedeuten. Nach weiteren Jahren in der Leitung, in der Erwachsenenbildung und als Ethikberater entschied ich mich, noch einmal zu studieren – Pflegewissenschaft an der kleinen und feinen theologisch-philosophischen Hochschule in Vallendar. Dort hatte ich das große Glück, in Frau Prof. Kohlen eine gute Betreuerin meiner Masterthesis gefunden zu haben, die mich anschließend für dreieinhalb Jahre als Wissenschaftlichen Mitarbeiter an ihren Lehrstuhl holte und mir die Gelegenheit bot, mich mit Themen der Ethik im Gesundheitswesen und von Palliative Care vertieft auseinanderzusetzen. In der Pflegewissenschaft lernte ich die Konzepte einer Care-Ethik kennen, die die Verletzlichkeit des Menschen ernst nimmt, die den Menschen als in sorgende Beziehungen eingebettet versteht und die das Handeln der Sorgenden immer nach ihrer eigenen Verletzlichkeit befragt, weil sie um die Notwendigkeit einer Balance von Sorge und Selbstsorge weiß. 2019 wurde ich in die Leitung des HOSPIZ STUTTGART berufen. Der Kreis hatte sich geschlossen. Hier habe ich die Möglichkeit, alle Facetten der Hospizarbeit kennenzulernen und mitzugestalten. Außerdem hatte ich die Möglichkeit, mit einer AG aus Haupt- und Ehrenamtlichen über aktuelle ethische Themen zu diskutieren, die unsere hospizliche Praxis im Kern berühren. Wir haben in einem anderthalb Jahre währenden Prozess ethische Leitlinien und Grundhaltungen zu wichtigen Fragen des Lebens entwickelt – zum Umgang mit Todeswünschen, mit dem Wunsch nach assistiertem Suizid sowie dem Wunsch nach freiwilligem Verzicht auf Essen und Trinken, zur ethischen Grundhaltung in der Kinder- und Jugendhospizarbeit und zum Umgang mit dem Wunsch nach einer tiefen kontinuierlichen Sedierung zum Zwecke der Leidenslinderung. Diese Arbeit hat die DGP mit einem ersten Preis gewürdigt. Darüber freuen wir uns sehr.

Was wäre für Sie die berufliche Alternative?

Ich bin offen für Vieles, wenn ich das Gefühl habe, mit meinen Gaben nützlich sein zu können. Gerne könnte ich mich auch politisch dafür einsetzen, dass schwerstkranken, sterbenden und trauernden Menschen sorgende Menschen an die Seite gestellt werden können, dass Räume der Geborgenheit entstehen und Zeit für Zuwendung sein darf. Dazu gehört, dass die beruflich Sorgenden unter Rahmenbedingungen arbeiten dürfen, die eine solche Sorge möglich machen. Gerne will ich mich noch mehr dafür einsetzen, dass schwerstkranke und sterbende Menschen in sorgenden Gemeinschaften eingebettet sein können, die die Not des Pflegenotstands nicht lösen können, aber Verantwortung übernehmen, weil Sorge uns alle angeht. Ich könnte mir aber durchaus auch vorstellen, irgendwann im Tierschutz eine zweite Heimat zu finden. Wer weiß, was sich mir in diesem Leben noch unter die Füße schiebt.

Wie beginnen Sie Ihren Tag?

Mit einem Spaziergang durch die Weinberge mit unserem Hund Benni. Der kann um diese Zeit schon recht munter sein. Das motiviert mich, es ihm gleichzutun – zu recht früher Stunde.

Leben bedeutet für mich …

Zeit und die entsprechenden Rahmenbedingungen für alles zu haben, was mir wichtig ist. Eine Arbeit, die mir Freude macht, Essen genießen mit der Familie und Freund*innen, ausgedehnte Spaziergänge mit Benni, meine Gartenwildnis pflegen dürfen, lesen und schreiben können und immer mal wieder in Schottland oder Wales sein dürfen.

Sterben bedeutet für mich …

Ruhig werden und darauf gespannt sein: kommt da etwas danach? Oder ist da nur friedliche Stille? Auch das ist eine schöne Vorstellung für mich.

Welches Ziel möchten Sie unbedingt noch erreichen?

Wenn ich am Abend zufrieden mit dem Tag bin, weiß ich, dass es gut ist wie es ist.

Meine bisher wichtigste Lernerfahrung im Leben ist …

Es gab immer Menschen in meinem Leben, die mich an den Orten, an denen ich beruflich und privat zu Hause war, unterstützt und treu und wahrhaftig (also auch kritisch) begleitet haben. Mein größtes Lerngeschenk ist sicher, dass ich immer vertrauen durfte. Als meine Schwester schwer erkrankte und nach kurzer Zeit verstarb, riss mir das den Boden unter den Füßen weg. Ich fiel in die Arme von zuverlässigen Freundinnen und Freunden, die mich in dieser Zeit stützten. Ja, ich glaube, das ist meine wichtigste Lernerfahrung: auf andere Menschen vertrauen zu dürfen.

Was würden Sie gern noch lernen?

Jeder Tag ist ja ein Lerngeschenk.

Woraus schöpfen Sie Kraft für Ihre Arbeit?

Aus Freundschaft, Partnerschaft und „Hundeschaft“. Aus der Sinnhaftigkeit meiner Arbeit. Aus der herzlichen Begegnung mit hauptamtlichen und ehrenamtlichen Kolleg*innen. Aus der ethischen Arbeit mit ihnen. Wenn wir gemeinsam unserer Verstorbenen gedenken und wenn wir dankbar unser Leben genießen bei fröhlichen und ernsten Gesprächen, bei leckerem Essen, bei Tee und Kuchen am großen Esstisch des Hospizes. Daraus, mit den Händen in der Erde zu arbeiten – bei Sonne und Regen. Aus der herrlichen und wärmenden indischen Küche. Wenn ich Zeit habe zu lesen und wenn ich Freiräume habe zu recherchieren, zu grübeln, mit Interessierten zu diskutieren und dann zu schreiben. Und aus den Gedanken anderer Menschen, die mich zum Nach- und Andersdenken bringen – zurzeit zum Beispiel Deepak Chopra, Pema Chödrön und Elie Wiesel.

Mit wem aus der Welt- oder Medizingeschichte würden Sie gern einmal einen Abend verbringen?

Keinen Abend, aber einen gemütlichen Cream Tea mit Cicely Saunders. Ich möchte gerne ihre bunte Lebensgeschichte hören und mich inspirieren lassen. Ich möchte mit ihr über die Anfänge der Hospizbewegung sprechen und sie besser verstehen können und auch hören, wie sie die Zukunft der Hospizbewegung sieht.

Wenn ich einen Tag unsichtbar wäre, würde ich …

Das möchte ich den Sichtbaren lieber nicht zumuten.

Wie können Sie Frau Helen Kohlen beschreiben?

Helen ist eine liebe Freundin und wunderbare Mentorin – kreativ, warmherzig und voller Ideen. Sie ist ein Familienmensch mit einer wunderbaren Familie und zugleich viel auf Reisen. Ich habe das immer bewundert, wie gut sie das hinbekommt. Die Essen mit ihr in unserer Zeit in Vallendar habe ich sehr genossen, die Gespräche mit ihr. Es ist schön, mit ihr zu lachen, Chips zu essen, Wein zu trinken und dabei völlig anders zu denken – die eigenen Annahmen infrage zu stellen und neu zu denken: denn es könnte ja auch völlig anders sein. Ich finde es schön und klärend und inspirierend, mit Helen gemeinsam zu denken und zusammen zu schreiben. Sie hat die Begabung, Komplexes sehr verständlich darstellen zu können, Dinge auf den Punkt zu bringen, sie hat die Fähigkeit der sinnhaften Konzentration und das zu kürzen, wo ich zu ausführlich bin. Helen hat mich in die Denkwelt von Foucault und der Care-Ethik eingeführt. Beide sind hilfreich, unser Sorgehandeln in Sorgebeziehungen nach unserer Verantwortlichkeit im Handeln zu befragen, danach, was unsere Verantwortung begründet und welche Bedeutung das für unseren Umgang mit uns selbst und mit den uns in Sorge anvertrauten Menschen zu tun hat. Beide sind hilfreich, sehr kritisch nach der institutionellen und gesellschaftlichen Verantwortung für eine gute Sorge zu fragen: damit Sorge gut gelingen kann und dass es den Sorgenden und denen, denen unsere Sorge gilt, gut dabei geht – nach deren Vorstellungen eines guten Lebens. Beide sind hilfreich, um nach strukturell bedingter Macht und Ohnmacht zu fragen – in persönlichen Sorgebeziehungen und deren institutionellen und gesellschaftlichen Einbettung – gerade an den Übergängen des Lebens ins Sterben und in den Tod. Care-ethisch lässt sich verstehen, dass jede Sorge mit unserer grundsätzlichen Ansprechbarkeit für andere beginnt. Helen hat einen neugierigen Blick auf das Leben. Sie inspiriert und unterstützt ihre Studierenden und Promovierenden sehr. Sie fördert und bewegt. Helen ist außerdem ein Naturtalent im Umgang mit Menschen. Sie gewinnt ihre Herzen im Nu. Sie ist eine Hörende.

Wie beenden Sie Ihren Tag?

Mit einem Glas Wein am PC oder auf der Couch und dann einer letzten Runde mit Benni durch die Weinberge.

Gibt es etwas, das Sie gern gefragt worden wären, aber noch nie gefragt worden sind?

Ob man uns ein wunderschönes Haus für ein Tageshospiz schenken dürfe. Träumen darf ich ja.

Zur Person

Geboren 1968 in Gschwend im Schwäbischen Wald. Freiwilliges soziales Jahr in der Sozialstation Ludwigsburg. Evangelische Theologie in Erlangen und Tübingen. Nach dem Examen Reisen und dann eine Ausbildung zum Kranken- und Gesundheitspfleger in Stuttgart. Palliative-Care-Fachkraft. Onkologisch-hämatologische, gynäkologische und nephrologische pflegerische Leitungen. Erwachsenbildung und Etablierung des Formats Ethik-Café mit Carola Fromm an verschiedenen Standorten. Ethik-Berater im Gesundheitswesen und mit dabei beim Aufbau des Ethik-Komitees. Masterstudium der Pflegewissenschaft in Vallendar, Wissenschaftlicher Mitarbeiter mit Schwerpunkten Palliative Care und Ethik. Seit dreieinhalb Jahren Gesamtleitung des HOSPIZ STUTTGART mit zwei ambulanten Hospizdiensten für Kinder, Jugendliche und Erwachsene sowie zwei Trauerbereichen, mit dem stationären Erwachsenen- und dem stationären Kinder- und Jugendhospiz, mit einer Akademie und der Landesstelle zur Begleitung von Familien mit einem schwer kranken Kind.



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Article published online:
02 January 2023

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