Zentralbl Chir 2022; 147(03): 242-243
DOI: 10.1055/a-1806-7258
Editorial

Editorial

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Michael Ghadimi

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

neuroendokrinen Neoplasien (NEN) des Gastrointestinaltraktes kommt eine immer höhere Relevanz im klinischen Alltag zu. Über die Jahre kam es zu stark ansteigenden Inzidenzen und diese sind inzwischen vergleichbar mit den Inzidenzen von Gliomen, Hodentumoren, dem Morbus Hodgkin oder dem multiplen Myelom. Die ansteigenden Zahlen sind sicherlich auch auf den vermehrten Einsatz und die breite Verfügbarkeit stetig verbesserter diagnostischer Maßnahmen zurückzuführen. Das klinische Erscheinungsbild der teils hormonaktiven Tumoren und die daraus resultierende Behandlung unterscheidet sich zwischen den NEN deutlich. Besonders die häufigere zufällige Diagnostik von teils indolenten, nicht hochgradig proliferativen Tumoren kann sowohl für das Behandlungsteam als auch für die Patientinnen und Patienten eine Herausforderung darstellen.

Die Nomenklatur und das Verständnis der NEN hat eine stete Entwicklung vollzogen – von der Erstbeschreibung durch Oberhofer, der 1907 „Karzinom-ähnlichen Tumore“, sogenannte „Karzinoide“, beschrieb, bis zur aktuellen WHO-Klassifikation von 2019, die die NEN anhand differenzierter molekularer Strategien einteilt. Der Differenzierung und der Morphologie werden dabei ein hoher Stellenwert eingeräumt. Nunmehr werden beispielsweise die High-Grade-NEN (G3) als gut differenzierte neuroendokrine Tumoren von den schlecht differenzierten neuroendokrinen Karzinomen unterschieden. Diese Unterscheidung wird auch dadurch unterstützt, dass als Sammelbegriff nicht mehr von neuroendokrinen Tumoren, sondern von neuroendokrinen Neoplasien gesprochen wird.

In der Behandlung der NEN des Gastrointestinaltraktes stellt die onkologische Chirurgie im nicht metastasierten Stadium die wichtigste Therapiesäule dar und ist die einzige Möglichkeit auf Heilung, wenngleich die Empfehlungen leider oft nur auf kleinen retrospektiven Fallserien beruhen. Allerdings hat das stetig wachsende Verständnis der NEN zu standardisierten therapeutischen Algorithmen geführt, die durch die Europäische Gesellschaft für Neuroendokrine Tumoren (ENETS) regelmäßig aktualisiert und publiziert werden (enets.org). Aber auch im metastasierten Stadium ist eine chirurgische Behandlung des Primarius oder der Metastasen aus unterschiedlichsten Überlegungen, wie beispielsweise zur Symptomkontrolle oder zum Erlangen der extrahepatischen Tumorfreiheit, indiziert. Bestenfalls werden diese therapeutischen Schritte in regelmäßigen interdisziplinären Tumorboards besprochen und sind in multimodalen Behandlungskonzepten integriert. Die Therapie von Patientinnen und Patienten mit NEN ist ein hervorragendes Beispiel für die Notwendigkeit der täglich gelebten Interdisziplinarität.

Der Zufallsbefund eines NEN im Rahmen einer Appendektomie kann weitreichende Folgen für die betroffenen Patientinnen und Patienten nach sich ziehen. Herr PD Michael Thomas von der Uniklinik Köln beleuchtet ausführlich den oft langwierigen Weg von der Appendektomie über die Diagnosefindung bis zur Therapieempfehlung. Appendektomien werden sehr häufig durchgeführt und bei einem Teil der Patientinnen und Patienten ist damit bereits eine suffiziente onkologische Therapie erfolgt. Allerdings ist oftmals auch eine Referenzpathologie einzufordern, um die notwendigen Informationen, auf denen die Therapieempfehlung basiert, zu erhalten. Eine onkologische Nachresektion im Sinne einer Hemikolektomie rechts kann aber auch bei jungen Patientinnen und Patienten notwendig sein.

Eine Mehrzahl der Patientinnen und Patienten wird leider erst im metastasierten Stadium diagnostiziert. Aufgrund der mannigfaltigen klinischen Erscheinungsbilder und der möglichen Symptome ist die Diagnose und Therapie erschwert. Herr Prof. Andreas Buck vom Universitätsklinikum Würzburg gibt einen ausführlichen Einblick in die Möglichkeiten der Diagnostik und Therapie der metastasierten Erkrankung mithilfe des modernen Ansatzes der „Theranostics“. Die Diagnostik und Therapie von gut bis mäßig differenzierten NEN basiert auf dem Rezeptorbesatz der Tumoren. Eine Radiorezeptortherapie mit oder ohne zusätzliche Biotherapie hat neben einer starken Symptomkontrolle auch sehr gute antiproliferative Effekte bei diffus metastasierten Patientinnen und Patienten.

NEN des oberen Gastrointestinaltraktes sind sehr häufig und unterstreichen die Wichtigkeit des engen interdisziplinären Austausches. Die Gruppe um Herrn PD Jörg Schrader vom Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf beschreibt ihren Algorithmus in der Diagnostik und Behandlung dieser häufigen Gruppe der NEN. Gerade die korrekte und ausreichende Resektion duodenaler NEN stellt aufgrund des Lagebezugs der Tumoren zu den umliegenden Strukturen, der Infiltrationstiefe und der möglichen lokoregionären Metastasierung eine besondere Herausforderung dar. Neben der rein endoskopischen oder chirurgischen Resektion kommt ein kombiniertes Verfahren ebenfalls in Betracht und die individuelle Therapieentscheidung wird im interdisziplinären Konsens getroffen.

Prospektive, multizentrische Studien sind in der chirurgischen Behandlung von NEN des Gastrointestinaltraktes bisher eine Seltenheit. Dennoch entwickelt sich für Patientinnen und Patienten mit einer NEN des Pankreas zunehmend die Erkenntnis, dass individuelle Lösungen gesucht werden können. Herr Prof. Martin Angele vom Universitätsklinikum der LMU München sowie PD Florian Bösch vom Universitätsklinikum Göttingen stellen gemeinsam ihre Strategie für ein personalisiertes Resektionsverfahren dar. Aufgrund der Zunahme der inzidentellen Diagnosen auch von sehr kleinen Tumoren und der komplexen Chirurgie des Pankreas ergibt sich der dringende Bedarf für individuell maßgeschneiderte Therapiekonzepte.

Eine weitere Besonderheit von NEN des Gastrointestinaltraktes stellt die Tatsache dar, dass sie schon früh zu einer hepatischen Metastasierung führen können. Herr Prof. Robert Öllinger von der Universitätsmedizin Charité Berlin beschreibt in seinem Artikel differenzierte Therapiestrategien bei Lebermetastasen und geht im Besonderen auf die Indikationsstellung ein. In der interdisziplinären Behandlung der Lebermetastasen stellt die chirurgische Resektion einen wichtigen Bestandteil eines multimodalen Therapiekonzepts dar. Die Indikation zur Lebermetastasenresektion kann dabei einer kurativen Intention folgen, aber auch aus palliativen Gründen in Erwägung gezogen werden. Als chirurgische Maximalform steht in Ausnahmefällen die Lebertransplantation zur Verfügung.

Mit diesen Artikeln zur Therapie von NEN des Gastrointestinaltraktes bieten wir Ihnen einen umfassenden Überblick über den derzeitigen Wissensstand. Die Auswahl der Autorenliste aus verschiedenen Universitätsklinika Deutschlands unterstreicht die Interdisziplinarität in der Therapie und die Autoren beschreiben innovative Behandlungsansätze von hoher klinischer Relevanz. Wir danken allen Autoren, die zur Entstehung dieses Schwerpunktheftes beigetragen haben, und wünschen Ihnen eine interessante Lektüre.

Florian Bösch, Michael Ghadimi



Publikationsverlauf

Artikel online veröffentlicht:
15. Juni 2022

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