Diabetes aktuell 2021; 19(05): 189
DOI: 10.1055/a-1519-2776
Editorial

Haben Sie sich mal gefragt, wo die Diabetessituation herausfordernder ist als in Deutschland?

Antje Bergmann
1   Dresden
,
Peter E.H. Schwarz
2   Dresden
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Prof. Dr. Antje Bergmann, Dresden
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Prof. Dr. Peter E.H. Schwarz, Dresden

Wir neigen ja immer dazu, die Situation mit zunehmender Anzahl von Menschen mit Diabetes in Deutschland als Diabeteswelle oder Diabetesflut darzustellen. Sicherlich ist das so, dass 8–10 Millionen Diabetespatienten sehr viele sind, aber wie ist das im weltweiten Kontext?

Wenn wir in den Nahen Osten gehen und insbesondere uns Saudi-Arabien anschauen, ist Deutschland im Vergleich dazu fast als diabetesfrei zu bezeichnen. Saudi-Arabien (ohne, dass es wirklich akkurate Statistiken gibt) geht im Moment von einer Prävalenz von Diabetes von 37 % aus und rechnet 2030 mit 56 % Prävalenz. Das heißt, tatsächlich mehr als jeder zweite Mensch, dem Sie auf der Straße begegnen, ist zuckerkrank. Wenn man dann im Kontext hat, dass zwei Drittel der Bevölkerung jünger als 30 Jahre sind, sind das statisch betrachtet nach Altersgruppen etwa 11–13-mal mehr Menschen mit Diabetes als in Deutschland. Ich glaube, das rechtfertigt viel eher, wenn man Wörter wie Diabetesflut oder Diabeteswelle benutzen will. Wie geht das Land damit um? Es ist tatsächlich eine Herausforderung nicht nur für die Gesundheitspolitik, sondern auch für das Deseasemanagement dieser Patienten. Interessanterweise wird versucht, Strukturen und Inhalte, die wir in Deutschland im Deseasemanagement aufgebaut haben, nach Saudi-Arabien zu kopieren. Vieles davon wird adaptiert, manches funktioniert nicht. Das Land hat versucht, über 400 Diabeteskliniken in wenigen Jahren aus dem Boden zu stampfen. Dabei ist vorgesehen, dass jeder Diabetespatient einmal im Jahr vom Zahnarzt und vom Psychologen gesehen wird. Jedes Diabeteszentrum bietet 2 große Fitnessstudios an (eins für Männer, eins für Frauen). Die Patienten kriegen ihr Bewegungs-programm verschrieben. Diese Verschreibung wird auf einer Gesundheitskarte (ähnlich unserer Krankenkassenkarten) gespeichert, die Karte wird in das Sportgerät gesteckt und die Übungen werden absolviert. Bei der nächsten Visite liest der Arzt aus, wie viel Bewegung und sportliche Übungen der Patient gemacht hat – ich denke ein interessanter Gedanke. Auf der anderen Seite hat das Land die gleichen Probleme wie Deutschland, dass die Finanzierung nicht sichergestellt ist, dass erstmalig Krankenkassen eingerichtet werden und dass es auch Patienten gibt, die keine Versorgung bekommen.

Das lässt mich zu dem zweiten Erlebnis kommen, was mich sehr betroffen gemacht hat. Wir streiten uns sehr über das Für und Wider von bestimmten Corona-Maßnahmen. In anderen Ländern können diese existenziell sein. In vielen afrikanischen Ländern erfolgt der Broterwerb für die meisten Menschen sozusagen von der Hand in den Mund als moderne Tagelöhner. In diesen Ländern ist häufig der Tourismus zusammengebrochen, Lockdown- und Quarantänesituation haben lokalen Handel oft fast zum Erliegen gebracht. Es gibt Berichte über Diabeteskliniken und über Patienten, die sich durch den Jobverlust während der Pandemie keine Teststreifen, Medikamente und auch kein Insulin mehr leisten konnten, dieses dann entweder gestreckt haben oder gar kein Selbstmanagement mehr betreiben konnten. Esgibt viele Stiftungen und Initiativen, die diesen Patienten helfen wollten und Medikamente bereitstellen wollten (häufig funktionieren die Kliniken nur so), aber durch Reisebeschränkungen und Flugausfälle konnten die Medikamente dort nicht mehr ankommen, sodass durch Corona, aber ohne Corona-Erkrankungen Diabetespatienten verstorben sind.

Ich denke, es kann nicht schaden sich diesen Gedanken auch mal zu stellen. Wenn wir über einige Aspekte im Diabetesmanagement in Deutschland frustriert sind. Die Situation ist schon so, dass wir in einem modernen Land mit einem hochmodernen Gesundheitssystem leben, in dem selbst in schwierigen Situationen Patienten gut versorgt sind, die Patienten Zugang zu fast allen Medikamenten haben und wir eine Diabetologie mit hoher Qualität umsetzen können. Die berechtigten Frustrationen sind häufig auch Dinge, die wir durch eigenes Engagement, Diskussionen mit Krankenkassen, politisches Engagement und Vorbildfunktionen verbessern können und auch sollten.



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Article published online:
06 September 2021

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