Gesundheitsökonomie & Qualitätsmanagement 2021; 26(04): 177
DOI: 10.1055/a-1506-5230
Herausgeberkommentar

Reduktion?! – Wie die Corona-Pandemie das deutsche Gesundheitswesen prägt

Reduction?! – How the corona pandemic is shaping the German health system
Reinhard P. T. Rychlik

In der Wissenschaft wäre ein Prä-/Post-Vergleich – vor Corona/während Corona – angesagt gewesen.

Aber von welcher Wissenschaft sprechen wir eigentlich? Derzeit verzeichnet man eine Art „Methodenpluralismus“. Wissenschaftler aller Couleur und solche, die es gerne sein wollen, bemühen sich darum, ein heterogenes Verständnis der Pandemie zu zeichnen – als wenn es keine Wissenschaft vor Corona gegeben hätte. Beispielsweise musste der Begriff Inzidenz nicht neu erfunden werden. Es gab ihn schon und man hätte ihn nur zu übernehmen brauchen.

Dazu kommt, dass die Ergebnisse wissenschaftlicher Arbeit nicht mehr selbst von den Autoren vorgestellt werden, sondern vom Journalismus – weil es die breite Öffentlichkeit nicht versteht, nicht verstehen kann oder nicht verstehen will?

Aber was verstehen Laien, die es anderen Laien erklären sollen?

Dieser Blackout der Wissenschaft wird begleitet vom Stillstand der Berichterstattung zu anderen oft genug letalen Erkrankungen, deren „Normalität“ wir fast schon vergessen haben, wie Herzinfarkt oder Krebs.

Dass wir viele Probleme im deutschen Gesundheitssystem vor Corona hatten, ist bestens bekannt: Der Gesundheitsminister veröffentlichte in ungeheurem Tempo immer neue Gesetzesvorhaben. Das Tempo ist offenbar zum Erliegen gekommen, aber die Probleme bleiben. Eine Reihe von Gesetzesvorhaben gilt z. B. als teuer. Wie sollen sie installiert werden bei leeren Corona-Kassen? Was wird mit der deutschen Krankenhauslandschaft, wo in anderen Ländern schon Microclinics installiert werden? Wie viele Intensivbetten braucht Deutschland überhaupt und woher soll das nötige Personal für Intensivstationen kommen?

Was passiert in der Pflege und mit dem Pflegepersonal? Baustellen, die es schon vor Corona gegeben hatte, die aber eine neue Brisanz und Qualität erhalten haben. Vieles ist transparenter geworden, aber vieles scheint derzeit nicht lösbar. Genauso wie keiner mehr Auszubildender werden möchte, geht es der Kranken- oder Altenpflege.

Und dies sind nur ausgewählte Beispiele.

Dabei ist die Corona-Pandemie noch lange nicht vorbei. Gestattet sie die Ausblendung aller anderen Gesundheitsprobleme im Sinne einer Priorisierung oder wäre es nicht sinnvoller wirklich interdisziplinäre Taskforces zu bilden, die sich dieses Sonderthemas täglich annehmen und das ansonsten „normale“ deutsche Gesundheitswesen weiter bearbeiten.

Bei Schülern wird ein Lerndefizit durch Corona befürchtet. Was befürchten wir durch die „intellektuelle Pause“ in anderen Bereichen? Zumindest ist allen klar geworden, dass Gesundheit kein Selbstläufer ist. Was hätten wir alles ableiten können: Stärkung des Immunsystems, Krankheitslehre, psychische und soziale Interaktion in Stresszeiten, Beurteilung und Selbsterkenntnis zu Schweregraden, Versorgungsmöglichkeiten und Nächstenliebe?

Aber vielleicht wird all dieses post Corona aufgegriffen.

Und es geht nicht nur um unser Gesundheitswesen, das für Jahrzehnte Masterarbeiten und Dissertationen in der Wissenschaft füllen wird, sondern auch um unser gesellschaftliches Miteinander. Gleichheit und Gerechtigkeit kennt das Virus nicht. Aber vielleicht animiert uns dieses soziale Fehlverhalten des Virus mehr zur Teilhabe an einem neuen Gesellschaftsbild.
Die Diskussionsebene ist eröffnet. Packen wir es an!
Prof. Dr. Dr. med. Reinhard P. T. Rychlik



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Article published online:
19 August 2021

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