Zentralbl Chir 2008; 133(4): 398-405
DOI: 10.1055/s-2008-1076904
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„Ecclesia abhorret a sanguine” Wiedergeburt und Verfall der Chirurgie im Hochmittelalter[1]

„Surgery in the Central Middle Ages”G.-M. Fleischer
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13 August 2008 (online)

Mit der auch heute noch vielfältig verwendeten Metapher vom „finsteren Mittelalter” (aetas obscura) wird eine Zeitspanne von Ende der Völkerwanderung ca. 600 bis zur Eroberung Konstantinopels durch die Osmanen 1453 n. Chr. bezeichnet, die aus humanistischer Sicht eine Epoche des Zerfalls und des Niedergangs darstellt. Die Bezeichnung „mittelalterlich” stand als Synonym für rückschrittlich, dogmatisch, fanatisch-klerikal, intolerant und engstirnig [16]. Tatsächlich, und von der modernen Mediävistik immer wieder ins Licht gestellt, ist dies eine Zeit des Aufbruchs und der Erneuerung und insbesondere der mittlere Abschnitt, das sogenannte Hochmittelalter von ca. 1050 bis 1300 n. Chr., wird von Jaques le Goff [11] als „Geburt Europas im Mittelalter” bezeichnet. Politisch prägende Ereignisse waren unter anderem der Investiturstreit zwischen Papsttum und dem Heiligen Römischen Reich, vor allem aber die Kreuzzüge, der fast 200 Jahre währende Kampf um die Eroberung des Heiligen Landes. Im europäischen Westen vollzog sich ein durchgreifender Wandel auf fast allen Gebieten des politischen und menschlichen Zusammenlebens, hauptsächlich bedingt durch einen erheblichen Bevölkerungszuwachs: von 1000 bis 1250 v. Chr. stieg die Bevölkerung Europas von 42 auf 69 Millionen. Handel und Handwerk gingen neue Wege, die ersten Banken und Versicherungen entstanden, die Bildung wurde in Klosterschulen und den ersten gegründeten Universitäten vermittelt. Malerei, Buchkunst und Literatur feierten eine neue Blütezeit und es entstanden die beeindruckenden romanischen Dome. Über allem aber stand die tiefe Gläubigkeit der Menschen – trotz aller Geschäftigkeit, allen Machtstrebens und aller Gewalttätigkeiten bezeichnet Durant [10] es als „gottberauschtes Zeitalter”.

Auch die Medizin profitierte von dieser Entwicklung, vor allen Dingen von den neuen Wegen der Kommunikation zwischen Orient und Okzident, wie sie zwangsläufig durch die Kreuzzüge und den damit gewonnenen lateinischen Einfluss im Nahen Osten entstanden. Mit den Forschungen der deutschen Medizinhistoriker Karl Sudhoff und Paul Diepgen, später Gundolf Keil, Heinrich Schipperges und vielen anderen, entstand ein neues Bild der mittelalterlichen Medizin. Namen tauchen auf aus dem Dunkel der Geschichte, die sich um die Entwicklung der Chirurgie verdient gemacht haben; Lehrbücher, die in dieser Zeit des Hochmittelalters entstanden, hatten noch Jahrhunderte später Auswirkungen auf die tägliche Arbeit der Wundärzte und Chirurgen. Besonders für die Behandlung Verletzter, die bei den zahlreichen kriegerischen Unternehmen, wie es die Kreuzzüge und viele andere Waffengänge nun einmal waren, eine wesentliche Rolle spielten, hatten die Vorstellungen der führenden Chirurgen dieser Zeit ein erstaunlich hohes Niveau erreicht. Allerdings ging dieser Entwicklung eine lange Zeit geistiger Stagnation und ein weitgehender Verfall des Wissens auf medizinischem Gebiet voran, der in Westeuropa zu einem enormen Nachholbedarf führte [4] [9] [19] [25] [38].

1 Herrn Prof. Dr. med. Peter Heinrich, ehemaliger Direktor der Chirurgischen Klinik der Universität Magdeburg, anlässlich seines 80. Geburtstags am 26.12.2007 in Dankbarkeit und Verehrung gewidmet.

Literatur

  • 1 Becela-Deller C. Die Weinraute (Ruta graveolens L.) als Beispiel für eine Heilpflanze zur Zeit der Schule von Salerno (10.–13. Jh.).  Würzburger medizinhistorische Mitteilungen. 1994;  12 143-152
  • 2 Bennion E. Alte medizinische Instrumente. Köln: Parkland; 1996
  • 3 Bordat J, von Cremona G. Biografisch-Bibliographisches Kirchenlexikon. Bd. XXVII. 2007: Spalten 531–533
  • 4 von Brunn W. Kurze Geschichte der Chirurgie. Berlin: Springer; 1928
  • 5 Chevalier A G. Die medizinische Schule von Montpellier. Chiba-Zeitschrift 1937: Nr. 50
  • 6 Chevalier A G. Salerno. Chiba-Zeitschrift 1938: Nr. 56
  • 7 Creutz R. Der Arzt Constantinus Africanus von Montekassino. Sein Leben, sein Werk und seine Bedeutung für die mittelalterliche medizinische Wissenschaft.  Stud Mitt Gesch Benedikt Ord. 1929;  47 1-44
  • 8 Creutz R. Die Ehrenrettung Konstantins von Afrika.  Stud Mitt Gesch Benedikt Ord. 1931;  49 25-44
  • 9 Diepgen P. Geschichte der Medizin. I. Band: Von den Anfängen der Medizin bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts. Berlin: de Gruyter & Co.; 1949
  • 10 Durant W. Das frühe Mittelalter. München: Südwest; 1978
  • 11 le Goff J. Das Hochmittelalter. Fischer Weltgeschichte Band 11. Fischer Taschenbuch Verlag GmbH 2000
  • 12 Grensemann H. Die Schrift „De adventu medici ad aegrotum” nach dem Salernitaner Arzt Archimatheus.  Würzburger medizinhistorische Mitteilungen. 1996;  14 233-251
  • 13 Gurlt E. Geschichte der Chirurgie und ihrer Ausübung. Berlin: Hirschwald; 1898
  • 14 Haage B D. Volkssprachige Abulcasis-Rezeption im 13. Jahrhundert.  Würzburger medizinhistorische Mitteilungen. 2000;  19 522-527
  • 15 Haberling W. Die Verwundetenfürsorge in den Heldenliedern des Mittelalters.  Jenaer medizin-historische Beiträge. 1917;  Heft 10 3-51
  • 16 Heer F. Mittelalter. Köln: Parkland; 2004
  • 17 Hettinger A. Zur Lebensgeschichte und zum Todesdatum des Constantinus Africanus.  Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters. 1990;  46 517-529
  • 18 Hunke S. Allahs Sonne über dem Abendland. Unser arabisches Erbe. Frankfurt. Fischer Taschenbuchverlag; 1976: 100 ff.
  • 19 Jankrift K P. Krankheit und Heilkunde im Mittelalter. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft; 2003
  • 20 Jones P M. Heilkunst des Mittelalters in illustrierten Handschriften. Stuttgart: Belser; 1999
  • 21 Keil G. Die deutsche medizinische Literatur im Mittelalter. Verh. XX. Internat. Kongress für Geschichte der Medizin. Hildesheim: Olms; 1968
  • 22 Keil G. Gariopontus.  LexMA. 2000;  4 1117-1118
  • 23 Keil G. Roger Frugardi und die Tradition langobardischer Chirurgie.  Sudhoffs Archiv. 2002;  86 1-26
  • 24 Keil G, Müller R. Deutsche Lanfrank-Übersetzungen des 14. und 15. Jahrhunderts. In: Medizingeschichte in unserer Zeit. Stuttgart. Enke; 1971
  • 25 Kilian H, Krämer G. Meister der Chirurgie und die Chirurgenschulen im deutschen Raum. Stuttgart: Thieme; 1951
  • 26 Lambertini G. Die Schule von Salerno und die Universitäten von Bologna und Padua. In: Toellner R. Illustrierte Geschichte der Medizin. Band 2. Vaduz. Andreas & Andreas Verlagsanstalt; 1992: 727 ff.
  • 27 Müller R. Der „Jonghe Lanfranc” (Altdeutsche Lanfranc-Übersetzungen, I). Bonn: Inaugural-Dissertation Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität; 1968
  • 28 Reiher H. Die Bedeutung der Medizinschule von Salerno für die Heilkunde im mittelalterlichen Skandinavien.  Würzburger medizinhistorische Mitteilungen. 1983;  1 151-165
  • 29 Gierhake F W. Asepsis. In: Sailer FX, Gierhake FW. Chirurgie historisch gesehen. Deisenhofen bei München: Dustri; 1973: 33–42
  • 30 Schipperges H. Die frühen Übersetzer der arabischen Medizin in chronologischer Sicht.  Sudhoffs Archiv. 1955;  39 53-93
  • 31 Schipperges H. Die Assimilation der arabischen Medizin durch das lateinische Mittelalter. Sudhoffs Archiv 1964: Beiheft 3
  • 32 Schipperges H. 5 000 Jahre Chirurgie, Magie – Handwerk – Wissenschaft. Stuttgart: Franckh'sche Verlagshandlung W. Keller & Co.; 1967
  • 33 Schipperges H. Constantinus Africanus. Biografisch-Bibliographisches Kirchenlexikon Bd. XVI 1999; Spalten 323–325
  • 34 Spranger R. Die Barbiere in der Mestieri-Archivolte von San Marco in Venedig. Überlegungen zum Berufsstand der Barbiere und zu den Zünften im mittelalterlichen Venedig.  Würzburger medizinhistorische Mitteilungen. 1991;  9 133-247
  • 35 Steudel J. Zwerg auf der Schulter des Riesen.  Sudhoffs Archiv. 1953;  37 394-399
  • 36 Steudel J. Eine arabische Interpolation in Galen's „Über die arabischen Namen”.  Wissenschaftliche Zeitschrift der Karl-Marx-Universität Leipzig: Math.-Naturwiss. Reihe. 1956;  5 117-119
  • 37 Stürner W. Friedrich II. Teil 2: Der Kaiser 1220–1250. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft; 2000: 375 ff.
  • 38 Sudhoff K. Beiträge zur Geschichte der Chirurgie im Mittelalter: Zweiter Teil. Leipzig: Barth; 1918
  • 39 Sudhoff K. Kurzes Handbuch der Geschichte der Medizin. Berlin: Karger; 1922: reprint Zentralantiquariat der DDR 1981
  • 40 Valls H. Illustration as abstract: the illustrative programme in a Montpellier manuscript of Roger Frugardi's Chirurgia.  Medicina nei Secoli arte e scienza. 1996;  8 67-83
  • 41 Zimmermann V. Die mittelalterliche Frakturbehandlung im Werk von Lanfrank und Guy de Chauliac.  Würzburger medizinhistorische Mitteilungen. 1988;  6 21-34
  • 42 Zimmermann V. Jüdische Ärzte und ihre Leistungen in der Medizin des Mittelalters.  Würzburger medizinhistorische Mitteilungen. 1990;  8 201-206

1 Herrn Prof. Dr. med. Peter Heinrich, ehemaliger Direktor der Chirurgischen Klinik der Universität Magdeburg, anlässlich seines 80. Geburtstags am 26.12.2007 in Dankbarkeit und Verehrung gewidmet.

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