Der Klinikarzt 2008; 37(3): 109
DOI: 10.1055/s-2008-1075866
Editorial

© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Bauchgefühle - oder die „Weisheit des Bauches”

Burckart Stegemann
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Publication Date:
15 April 2008 (online)

Es ist schon erstaunlich, was mit dem Bauch alles in Zusammenhang gebracht wird. Man hat so ein Bauchgefühl, entscheidet aus dem Bauch heraus, hat vielleicht Schmetterlinge oder sogar Flugzeuge im Bauch. Warum aber gerade da? Weshalb kommt ein ungutes Gefühl aus dem Bauch heraus? Wieso schlägt einem etwas auf den Magen? Alles nur Redensarten? Auch die vielfältigen Wechselwirkungen zwischen Bauch und Kopf kennt jeder - zum Beispiel nach zu viel oder schlechtem Essen, wenn man dann nicht schlafen kann oder schlecht träumt und dass man vor aufregenden Situationen mit Stress nichts essen kann. Was erzählt der Bauch dem Kopf eigentlich?

Der Grund für alle diese Phänomene, so der Neurowissenschaftler Michael Gershon von der Columbia Universität in New York, sei das Gehirn in unserem Bauch: Unsere Eingeweide sind umhüllt von mehr als hundert Millionen Nervenzellen, mehr Neuronen als im gesamten Rückenmark zu finden sind. Dieses „zweite Gehirn”, das haben Neuro-Wissenschaftler herausgefunden, ist quasi ein Abbild des Kopfhirns. Zelltypen, Wirkstoffe und Rezeptoren sind sogar exakt gleich. Schon Mitte des 19. Jahrhunderts entdeckte der deutsche Neurologe Leopold Auerbach in Breslau unter dem Mikroskop, dass zwei umfangreiche, ausgedehnte Netzwerke von Nervenzellen zwischen den Muskelschichten des Verdauungstraktes eingebettet sind, der dann nach ihm benannte Auerbach'sche Plexus. Nicht nur die gesamte Peristaltik des Verdauungstraktes, sondern zum Beispiel auch die Steuerung der Immunabwehr werden von hier aus gelenkt.

Früher hatte man angenommen, dass unser Gehirn alles steuere. Später fand man jedoch heraus, dass der Einfluss des Kopfhirns am Verdauungstrakt umso schwächer wird, je tiefer man an ihm forscht. Mund und Teile der Speiseröhre sowie des Magens werden noch zum Teil vom Gehirn angeleitet. Nach dem Magen übernimmt dann das Bauchhirn die Regie und erst am letzten Ende des Darmes, an Rektum und Anus, regiert das Gehirn im Kopf mit bewusster Steuerung wieder mit. Erst vor Kurzem stellten Forscher fest, dass weitaus mehr Nervenstränge vom Bauch in das Gehirn führen als umgekehrt. Etwa 90 % der Verbindungen laufen von unten nach oben. Wegen seiner integrativen Leistungen im Bauchraum bescheinigt Michael Schemann aus Hannover diesem komplexen Nervenplexus sogar „Denkleistungen”. So bestehen nach Ansicht mancher Forscher sogar große Hoffnungen für viele kranke Menschen in der Entschlüsselung der komplexen Kommunikation zwischen den beiden Hirnen.

Dass die Fülle der einfließenden Informationen von nicht bewussten Zentren aufgenommen und nicht alle bewusst wahrgenommen werden, dürfte allerdings ein Segen sein, denn sonst wären wohl jede Mahlzeit und die Verdauung eine Qual. Wie weit auf diesem Wege Veränderungen im Gehirn bewirkt werden können, die unsere Stimmungslage und Verhaltensweisen beeinflussen, ist natürlich noch Spekulation. Können Schwermut und Angst also tatsächlich auch vom Bauch her kommen?

Kein Kollege lachte, als der Neurogastroenterologe und Professor für Physiologie Emeram Meyer auf einem Symposium in New York in den so überraschend umfangreichen Nervenfasern, die das kleine Hirn des Bauches mit dem großen Gehirn von unten nach oben verbinden, das biologische Korrelat menschlicher „Bauchgefühle” und der Intuition sah. Sie entstehe aus der Wechselwirkung der zwei intim verschalteten Gehirne. Zumindest werfen solche Forschungen einmal zusätzlich ein ganz interessantes Licht auf den Bauchraum des Menschen, mit dem sich dieses Heft ja speziell beschäftigt. Vielleicht sprechen ja spätere Generationen einmal von der „Weisheit des Bauches”?

Prof. Dr. Burckart Stegemann

Hagen