PPH 2008; 14(4): 187
DOI: 10.1055/s-2008-1027738
Editorial

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Ohne Solidarität geht nichts

U. Villinger
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Publication Date:
25 August 2008 (online)

Vor zwei Wochen wurde mir mit einiger Verspätung der Tagungsband des internationalen IPPNW-Kongresses „Medizin und Gewissen – Im Streit zwischen Markt und Solidarität”, der im Oktober 2006 in Nürnberg stattgefunden hatte, ins Haus geliefert. Gelegenheit, sich zu fragen, was seither geschehen und vor allem nicht geschehen ist.

Psych. Pflege Heute hatte seinerzeit einen Tagungsbericht abgedruckt. Darin wurde einer der Referenten, Prof. Dr. Rolf Rosenbrock, wie folgt zitiert: „Auch nach Einrichtung eines Gesundheitsfonds wissen wir z. B. nicht, ob die Krankenversicherung in Zukunft solidarisch finanziert wird. Auf der anderen Seite beobachten wir mit Sorge in Politik und Gesellschaft einen zunehmend billigenden und unverschämten Umgang mit gesellschaftlicher Ungleichheit auch in Bezug auf Gesundheit. ... Wir haben eine Fülle von Einzelbefunden, die man zu einem Gesamtbild verdichten kann, aber dies ist eher Zufall, weil es in Deutschland keinen eingeführten Ansatz gibt, politische Programme, z. B. Gesetze vor der Verabschiedung auf ihre möglichen Folgewirkungen hin abzuschätzen und dann systematisch zu begleiten. Ein Beispiel ist die Einführung der diagnosebezogenen Fallpauschalen.”

Der im Zitat erwähnte Gesundheitsfonds wird 2009 eingeführt und ist unter dem Titel „Völlig krank” Gegenstand eines Artikels von Elisabeth Niejahr in der ZEIT Nr. 30 vom 17.7.2008. Darin wird die von Prof. Rosenbrock vertretene Einschätzung der mangelhaften Prüfung der Folgewirkungen von politischen Entscheidungen nachhaltig gestützt. Frau Niejahr schätzt ein, dass dieses Vorhaben in der Gefahr steht, im völligen Chaos zu enden und vor allem für alle Akteure – Versicherte, Beschäftigte im Gesundheitswesen und Krankenkassen – wesentlich teurer zu werden als vorgesehen.

Ein weiteres Beispiel für die mangelhafte Abschätzung der Folgewirkungen von Gesetzen oder politischen Entscheidungen ist derzeit für mich das Krankenpflegegesetz von 2004 und seine Anforderung, die praktische Ausbildung ab 2008 systematisch nachzuweisen. Diese Anforderung, so berechtigt sie ist, trifft auf eine Situation an den Orten der praktischen Ausbildung, den Krankenhausstationen und den ambulanten Pflegediensten, in der die pflegerischen Mitarbeiter ihrer Kernaufgabe der adäquaten Patientenversorgung aufgrund der Stellenreduktion nicht mehr ausreichend nachkommen können – auch eine Folge von Gesundheitsreformen! Ob solche Reformen den Namen verdienen, sei dahingestellt.

Ein weiteres Beispiel: Während der letzten Monate bekamen die Klienten im Betreuten Wohnen, für das ich mitverantwortlich bin, ihre Nebenkostenabrechnung für das Jahr 2007. Bei den meisten von ihnen stehen wegen der gestiegenen Energiekosten Nachzahlungen ins Haus, die sie nicht oder nur unter Aufgabe von z. B. geplantem Zahnersatz oder endlich einer passenden Brille bezahlen können – auch ein „gewolltes” Reformergebnis? Wenn chronisch psychisch erkrankte Menschen noch den Rückhalt einer Familie haben, geht’s ein wenig besser. Wenn nicht, dann ist von der Solidarität der Gesellschaft nichts mehr zu spüren, ähnlich wie bei der skandalösen Kinderarmut und anderen Notlagen.

„Im Streit zwischen Markt und Solidarität” hieß der Untertitel des o. g. Kongresses. Mir scheint, dass die Frage der Solidarität mehr und mehr an Boden verloren hat oder überhaupt nicht mehr auf der Tagesordnung steht. Damit würde die Politik eine ihrer Kernaufgaben, für einen gesellschaftlichen Ausgleich zwischen Starken und Schwachen und für Chancengleichheit zu sorgen, aus den Augen verloren haben. Die lautstarke und einflussreiche Klientel wird bedient – Stichworte dazu sind Senkung der Lohnnebenkosten oder Steuersenkungen – die Schwachen haben keine Lobby.

„Medizin und Gewissen” war der Titel des Kongresses. Seit einigen Jahren frage ich mich, wie lange ich als Berufstätige mich an diesem System beteiligen und trotzdem morgens noch in den Spiegel schauen kann. Ich glaube nicht mehr lange; mir reicht’s. Wenn nur noch das Recht des Stärkeren zählt, hat dies mit einem funktionierenden Gemeinwesen nichts mehr zu tun. Aber Solidarität mit den Schwächeren und ordentliche Gesundheitsleistungen für alle kosten Geld, und da ist mit den o. g. Stichworten Steuersenkungen für die Starken u. Ä. eben nichts zu machen.

Am 25.9.2008 findet die zentrale Kundgebung der Aktion „UNS REICHT’S” in Berlin statt – fahren Sie hin?

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