PPH 2008; 14(3): 125
DOI: 10.1055/s-2008-1027583
Editorial

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Menschen(un-)würdige Pflege? - Einige wenige Denkanstöße zur komplexen Situation

H. Schädle-Deininger
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Publication Date:
20 June 2008 (online)

„Pflegerische Versorgung, Gesundheitsberatung und Gesundheitserziehung sind elementare Bausteine einer jeden Gesellschaft. Jeder Mensch hat ein Anrecht auf professionelle Pflege und muss vor unsachgemäßer Pflege geschützt werden.” (Aus der Berufsordnung des Deutschen Berufsverbands für Pflegeberufe.)

Immer mehr Kolleginnen und Kollegen berichten aus ihrem Alltag in der ambulanten sowie komplementären Versorgung und zunehmend auch aus dem stationären Bereich, dass psychisch kranke Menschen - trotz der Forderung nach niedrigschwelligen Angeboten in einer guten psychiatrischen Versorgung - Hilfe nur verzögert in Anspruch nehmen. Demzufolge greifen Betroffenen häufiger wieder kränker auf professionelle Begleitung, Behandlung und Pflege zu. Ständig müssen sich daher die Berufsangehörigen der Pflege in ihrer Arbeit fragen, ob die individuelle und dem Menschen zugewandte Pflege ein Auslaufmodell ist.

Die Einsparungen auf allen Ebenen des Gesundheitswesens haben dazu geführt, dass die Personaldecke in der Pflege sich so gestaltet, dass eine auf den einzelnen psychisch erkrankten oder alten Menschen individuell zugeschnittene pflegerische Hilfe in allen Versorgungsbereichen kaum mehr möglich ist. Besonders sichtbar werden die dadurch entstandenen Mängel auch in der Altenpflege. Ein paar Aspekte zur Verdeutlichung.

In der Ausgabe des „Vorwärts” vom Mai 2008 ist zu lesen, dass die Kosten der unsozialen Umverteilungspolitik auf alte Menschen und ihre Familien zukommen und einem modernen Raubrittertum gleichkommen. Daran werde auch die Pflegereform ab 1. Juli wenig ändern. Vernachlässigende, gefährliche Pflege wird dabei angesprochen und festgestellt, dass dies unsägliches Leid für die Pflegebedürftigen bedeute und dass vielerorts Psychopharmaka die Pflegekräfte ersetzen. Medikamente werden von den Krankenkassen bezahlt, Zuwendung dagegen nicht. Für die Pharma-Konzerne sei dies ein lohnendes Geschäft. Das Risiko „Pflegebedürftigkeit” werde dadurch wiederum reprivatisiert und bedeute somit Armutsrisiko für Betroffene und Angehörige.

Genau dieser Aspekt trifft auch auf Menschen zu, die an einer psychischen Erkrankung leiden. Sie benötigen Zeit, die der Versorgungsalltag in allen Bereichen nicht mehr vorsieht. Beispielsweise benötigt der einzelne Betroffenen den notwendigen Raum, die Zeit, um eine für ihn akzeptable Erklärung für seine Erkrankung zu finden, um sich in kleinen Schritten auf den Weg der Gesundung begeben zu können, trotz seines chronischen Leidens. Er und die Angehörigen brauchen die entsprechende professionelle Unterstützung und Begleitung, um diesen Prozess und die Auseinandersetzung gemeinsam zu bewältigen. Vielfach kann man sich im Gesundheitswesen nicht des Eindrucks erwehren, dass es sich auch hier um eine „Produktionsfertigung” handelt: immer schneller, immer kostengünstiger und in immer in kürzerer Zeit ausheilbar. Das zeigen die Anfragen der Krankenkassen und die geforderten immer kürzeren Verweildauern.

Wenn jedoch die oben erwähnte nachhaltige Verbesserung der Krankheitsbewältigung und die Erarbeitung von Bewältigungsstrategien mit jedem einzelnen psychisch erkrankten Menschen - auch im Sinne pflegerisch-präventiver Maßnahmen - gelingen soll, sind zur Zielerreichung ausreichend Zeit, zeitfordernde Konzepte und durchlässige Versorgungsstrukturen notwendig.

Das Bild der Pflege in der Öffentlichkeit wird immer inhumaner und technisierter. Das widerspricht dem Auftrag der Pflege und der Berufsauffassung professioneller Pflegepersonen. Die Aktion „Uns reicht’s” hat dies verdeutlicht und es ist zu hoffen, dass die katastrophale Situation vielen Pflegenden bewusst ist bzw. wird. Konsequent wäre nun, dass professionell Pflegende ihre Forderungen deutlich artikulieren, anmahnen und einklagen, wenn der Pflegeberuf sich nicht nur instrumentalisieren lassen will. Es gilt, die erreichte Qualität im Alltag und die Inhalte pflegerischen Handelns zu verteidigen und keinen weiteren Abbau zuzulassen. Dazu gehört auch, dass der Pflegebedarf von den Pflegekräften eigenständig erhoben und verordnet wird, um aufzuzeigen, welche umfassenden Tätigkeiten zum Wohle der Bevölkerung notwendig sind. An dieser Stelle bleibt für mich die zentrale Frage, wie sich mehr Solidarität und gemeinsames Handeln in der Pflege erreichen lässt und welche Kooperationen möglich oder notwendig sind, um den Alltag wieder pfleglicher zum Wohle des (psychisch) erkrankten Menschen zu gestalten.

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