Suchttherapie 2007; 8(3): 87-88
DOI: 10.1055/s-2007-985824
Editorial

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Editorial

H. Stöver
Further Information

Publication History

Publication Date:
13 September 2007 (online)

Der Mann steht immer stärker im Mittelpunkt gesellschaftlicher Aufmerksamkeit - als ,Problemfall‘, in einer ,Identitätskrise‘ (nicht nur zeitlich begrenzt als ,midlife crisis‘), entwurzelt, seiner quasi natürlichen Bestimmung, der lebenslangen Erwerbsarbeit und damit seiner Herr- und Hüterfunktionen, seines „Draussens” beraubt: als „Männerdämmerung” bezeichnet (W. Holstein). Klingemann geht davon aus, dass biographische Statuspassagen und spezifische situative Herausforderungen in Männerwelten potentiell stresserzeugend sowie gesundheitsschädigend sind und spezielle Bedürfnisse verdeutlichen. Die nicht befriedigt werden (können).

Der Konsum psychotroper Substanzen, ob gelegentlich oder dauerhaft, moderat oder exzessiv, scheint für viele Jungen und (junge) Männer jedoch ein probates Mittel grundsätzliche Probleme wie Sprachlosigkeit, Ohnmacht, Isolation, Bedeutungsverlust, Armut oder Identitätskrise für einige Zeit zu lösen. Auf Dauer genommen verschärfen sich jedoch viele Probleme durch nicht mehr zu ignorierende gesundheitliche, soziale oder familiäre Folgen. Jungen und Männer sind bei Problemen, resultierend aus Alkohol- und Drogenabhängigkeit, besonders stark betroffen. Gleichzeitig sind ihre Fähigkeiten, Ressourcen und Aussichten, diese Problematik zu bewältigen, unterentwickelt - angefangen bei der geringeren und oft sehr späten Inanspruchnahme von Hilfeangeboten, bis hin zu der gefühlten und gefürchteten Erosion des eigenen Männlichkeitskonzeptes, nicht zu sprechen von geringeren Kommunikations- und Kooperationskompetenzen: ,Lonesome Cowboy‘ bedeutet immer noch für viele Männer, alles mit sich abzumachen und Hilfe anderer als Stärkeeinbruch zu erleben.

Drogen spielen in diesen männlichen Bewältigungskonzepten eine herausragende Rolle als Demonstrationsmittel von Stärke, als Anti-Stressmittel, als Symbol von Grenzüberschreitung und Gefährlichkeitssuche, als Kommunikations- oder Rückzugsmittel oder als soziales Schmiermittel überhaupt. Aber über psychotrope Substanzen hinausgehend gerät auch der männliche Körper (wieder) in den Focus von Männlichkeitsdemonstration: Gestählte Körper drücken als Muskelpanzer Immunität gegenüber zunehmend geforderter Sensibilität und fürsorglicher Mithilfe in der Familie und im Haushalt aus. Welche Mittel dazu verwendet werden, dazu der Beitrag von Irmgard Vogt. Passend zur gerade beendeten „Tour de Farce”, beschreibt sie die Auswirkungen und die Funktion der Einnahme anaboler-androgener Steroide und Stimulanzien bei Männern.

Auch pathologisches Glücksspielern ist vor allem eine Männderdomäne. Volker Premper und Wolfgang Schulz gehen dem Behandlungserfolg und dem prospektiven Krankheitsverlauf bei pathologischen Glücksspielern in Abhängigkeit von Komorbidität und Spielkarriere nach; 84% Männer befanden sich in ihrem sample. Die vorherrschende Form des Glücksspielens war die an Geldspielautomaten (94.1%), gefolgt von Casinospielen (17.8%) und Sportwetten (12.9%). Die aktive Glücksspielzeit betrug im Mittel 14.5 Jahre, nach 5.8 Jahren stellte sich im Mittel das Empfinden von Abhängigkeit ein. Damit verbindet sich der große männliche Traum von Größe durch Geld - der Tod des Handlungsreisenden!

Brauchen wir überhaupt eine männerspezifische Sucht- und Drogenarbeit? Ja! Weil sie eigent-lich längst überfällig ist - so Klingemann! Wir könnten ebenso fragen, warum werden besondere Angebote für Jugendliche, Migrant/innen, oder Menschen aus sozial benachteiligten Schichten oder Frauen gemacht? Wir stellen diese Fragen nicht mehr: Zu deutlich ist geworden, dass Menschen mit unterschiedlichen kulturellen, sozialen Hintergründen und individuellen Ressourcen in verschiedenen biographischen Stadien aus ganz unterschiedlichen Motiven Drogen konsumieren. Vor allem unterscheiden sich Männer und Frauen in ihren Konsummotiven, -gründen, -anlässen, in Suchtverlauf, -bewältigung und -beendigung ganz erheblich voneinander.

Nach allgemeiner Einschätzung ist die Suchtkranken-/Gefährdetenhilfe aber nicht entsprechend auf die Überrepräsentanz männlicher Abhängigkeitsproblematiken vorbereitet. Diskussionen über männerspezifische Hilfeansätze werden in Therapieeinrichtungen, in Publikationen und auf Fachtagungen erst seit einigen Jahren geführt. Die Erkenntnis, dass ein solcher Arbeitsansatz zur Qualitätssteigerung, zum größeren Erfolg der Hilfestrategien beitragen kann, hat sich noch nicht ausreichend durchgesetzt - auch nicht bei den Kostenträgern oder in einer allgemeineren Debatte über die zukünftige Ausgestaltung der Suchtkrankenhilfe. Deshalb verwundert es nicht, dass männerspezifische Arbeitsansätze und Konzeptionen für die Beratung und Behandlung von Drogenabhängigen/-gefährdeten rar sind. Es fehlen damit Modelle in vielen Regionen, die Anstöße geben können, den eigenen Blick in der Einrichtung für männerspezifische Ursachen, Verläufe und Beendigungsmuster von Abhängigkeit zu schärfen.

Eine Überprüfung der ‘Männertauglichkeit‘ suchtspezifischer Behandlungssettings ergänzt durch Beispiele für geschlechtsrollenadäquate Behandlungsmodalitäten nimmt Harald Klingemann in seinem Beitrag vor. Er befasst sich zudem mit der Vernachlässigung des Zusammenhangs ‘Maskulinität - Risikoverhalten - Sucht‘ auch im Bereich der Prävention.

Die Sucht- und Drogenhilfe hat sich einerseits in den letzten Jahren stark ausdifferenziert, um Menschen dort zu unterstützen, wo sie den Wunsch entwickeln und ihre Ressourcen mobilisieren können, um aus der Sucht oder dem problematischen Drogenkonsum heraus zu kommen. Denn: ebenso vielfältig wie die Wege in die Sucht sind die Wege wieder heraus und ebenso vielfältig müssen die Unterstützungen auf den einzelnen Gebieten der Suchthilfe sein. Der Erfolg und die Wirksamkeit der Suchtarbeit hängt maßgeblich davon ab, wie zielgruppengenau, bedarfsorientiert und lebensweltnah sie ihre Angebote ausrichtet, um den unterschiedlichen Erfahrungen und Bedürfnissen der Hilfesuchenden besser gerecht zu werden. Wissenschaftliche Zugänge zur Erklärung von Drogenkonsum, Projekte zur zielgenauen Prävention, lebensweltnaher Beratung, bedarfsgerechter Therapie und Nachsorge von Drogenkonsument/innen sind dringend indiziert.

Trotz aller gelungenen Ausdifferenzierung in wichtigen Arbeitssegmenten wird eine geschlechterspezifische Suchtarbeit jedoch noch immer mit „frauengerechten Angeboten” gleichgesetzt, in der stillschweigenden Übereinkunft: „Sucht-/Drogenarbeit minus frauenspezifischer Arbeit muss gleich männerspezifisch sein.” Diese geschlechtsnegierende Sicht auf das Phänomen Sucht in allen Facetten wird jedoch kontrastiert durch Erkenntnisse, dass auch männlicher Drogenkonsum besondere Ursachen hat, dass die Inanspruchnahme von Vorsorge-/Hilfe- und Beratungsangeboten von Männern begrenzt ist, dass der individuelle Suchtverlauf und -ausstieg, die Kontrolle über Drogen, sowie die soziale Auffälligkeit geschlechtsspezifische Besonderheiten aufweist.

Diese Gedanken sind in der frauenspezifischen Suchtarbeit - zumeist von Frauen für Frauen - in den letzen 25 Jahren bereits umgesetzt worden - wenn auch nicht flächendeckend und immer noch nicht differenziert genug. Angebote wurden erkämpft, Standards und Leitlinien erarbeitet, wissenschaftliche Theorien entwickelt und empirisch überprüft. Für suchtkranke/-gefährdete Männer hingegen fehlen solche Angebote oder selbst Konzepte nahezu völlig. Ohne Männerbewegung, ohne Männergesundheitsbewegung hat es bislang auch keine männerspezifische Sucht- und Drogenarbeit gegeben. Scheinbar haben Männer bislang keinen Bedarf gesehen, männerspezifisch zu arbeiten. Haben Professionelle und Betroffene geglaubt, in all den Angeboten, in denen keine oder kaum Frauen waren, würde bereits ihr soziales Geschlecht und der Zusammenhang der Konstruktion ihrer Männlichkeit mit Drogenkonsum reflektiert? War Geschlechtsspezifik nur etwas für (frauenbewegte) Frauen? Glaubte man(n), die besonderen gesundheitlichen Belastungen für Männer und ihre Auswirkungen auf den Drogenkonsum wären bereits hinreichend erkannt und therapeutisch bearbeitet?

Betrachtet man die Verbreitung und Verteilung der von psychoaktiven Substanzen abhängigen oder gefährdeten Menschen in Deutschland, fällt deutlich die vermehrte Betroffenheit bei Männern auf. Gleichzeitig bestehen jedoch auffällig wenig Versorgungsangebote mit männerspezifischen Ansätzen. Die „Entdeckung der Männlichkeit” hat lange gebraucht und sich bis heute nicht völlig als Leitidee durchgesetzt (Stöver).

Diese Diskrepanz wird zunehmend in der (Fach)-Öffentlichkeit deutlich und in einer Reihe von Seminaren, Fachtagungen und Publikationen ist in den letzten Jahren auf die Notwendigkeit einer Ausweitung männerspezifischer Angebote hingewiesen worden. Immer augenfälliger wird die Notwendigkeit, männerspezifische Ursachen und Ausprägungen von Sucht (-gefährdung) zu erforschen, therapeutische Antworten auf den spezifisch männlichen Umgang mit Krisen, Süchten, Hilfeangeboten, eigenen Ressourcen und Lebensentwürfen zu suchen. Männer machen es dabei sich und anderen nicht leicht, strukturelle Bedingungen wie sozialisations- bzw. rollentypische Erwartungen an Männer (z. B. keine Ängste zulassen), das mangelhafte Erkennen und Benennen eigener Bedürfnisse (Stummheit), die Ignoranz gegenüber Körpersignalen, wahrzunehmen. Aber auch ausgeprägtes Desinteresse an Reflexion, theoretischer Aufarbeitung von sich verändernder Männeridentität und Mannsein erschweren sowohl eine Männergesundheitsbewegung, als auch eine männerspezifische Sucht- und Drogenarbeit. Eher existieren Überlegungen, was man(n) von der Frauenbewegung übernehmen könnte, eher bequeme, fast selbstgefällige, aber auf jeden Fall holprige (erste) Gedanken zur eigenen kulturell-sozialen Geschlechtlichkeit und deren Auswirkungen auf Gesundheit und Drogenkonsum/-sucht.

Correspondence

Prof. Dr. H. Stöver

Universität Bremen

FB 11 Public Health

Postfach 330 440

28334 Bremen

Email: heino.stoever@uni-bremen.de