Endo-Praxis 2007; 2(2): 24-25
DOI: 10.1055/s-2007-982094
Leserbriefe

© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Auf dem Weg zur Unsterblichkeit

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Publication Date:
25 May 2007 (online)

Ich war siebzehn, saß am Küchentisch und hörte genau wie meine Mutter aufmerksam den Ausführungen unserer Hausärztin zu.

„Ja - Tilly, deine Mutter hat nun das biblische Alter von 89 Jahren erreicht. Ein arbeitsreiches und erfülltes Leben liegt hinter ihr. Der Körper ist verbraucht, sie ist ein Pflegefall, isst kaum noch etwas und du musst damit rechnen, dass sie bald stirbt. So ist das nun einmal und damit müssen wir uns abfinden. Sei froh, dass sich ihr Zustand erst vor ein paar Wochen so verschlechtert hat.”

Vierzehn Tage nach diesem Gespräch starb meine Großmutter friedlich zu Hause, in ihrem Bett, im Kreise der Familie!

Ungefähr zehn Jahre später begann man mit der Legung der ersten PEG-Ernährungssonden. Mit Hilfe eines Gastroskops wird diese Sonde, unter sterilen Bedingungen, durch die Bauchdecke im Magen platziert. Jeder, der in einer Endoskopie arbeitet, kennt dieses Verfahren, da es heute zur Routine geworden ist. In vielen Bereichen ist dieser Eingriff ein Segen für den kranken Menschen.

Für Patienten mit neurogenen Schluckstörungen zum Beispiel ist dieses Verfahren eine sinnvolle Sache. Da in unserem Krankenhaus eine neurologische Frührehabilitationsabteilung vorhanden ist, legen wir bei vielen der Patienten mit Schluckstörungen eine PEG-Sonde. Nach erfolgreicher Therapie durch die Ergotherapeuthen werden die Ernährungssonden in vielen Fällen wieder problemlos entfernt.

Auch bei Patienten mit Tumoren im Mund-, Halsbereich und im oberen Gastrointestinaltrakt bietet die PEG eine wesentliche Erleichterung für den Patienten und gibt ihm ein Stück Lebensqualität für einen gewissen Zeitraum, der ihm ansonsten verwehrt bleiben würde. In den meisten dieser Fälle entscheidet der Patient, ob diese Maßnahme bei ihm durchgeführt wird und gibt dafür seine Einwilligung.

Den Hauptanteil von Ernährungssonden legen wir allerdings bei Patienten, die nicht mehr in der Lage sind, für sich selbst zu entscheiden. Sie werden von Pflegeeinrichtungen oder von zu Hause zu uns eingewiesen. Entweder entscheiden über diese Maßnahme ihre Kinder, oder ein vom Gericht eingesetzter Vormund. Es sind häufig Schwerstpflegefälle zwischen dem 80sten und 100sten Lebensjahr. Die älteste Patientin, bei der wir im letzten Jahr eine PEG gelegt haben, war 1907 geboren. Es sind Menschen, bei denen man bei allem Verständnis nicht mehr von Leben sprechen kann. Oftmals haben sie Kontrakturen an Armen und Beinen, Dekubiti an Fersen, Gesäß und Schultern, sind vollkommen dement, nehmen ihre Umwelt, die vertrauten Personen nicht mehr wahr. Es ist ein Siechtum!!

Aus Unwissenheit stimmen viele Angehörige einer solchen Maßnahme zu, da die Ärzte in den Krankenhäusern verpflichtet sind, Leben zu erhalten. Durch die immer kürzeren Liegezeiten stehen die Ärzte unter dem Druck, die Patienten möglichst schnell wieder zu Entlassen. Zweifelnde und kritische Angehörige werden da nicht gern gesehen und gelegentlich von Haus- und Stationsärzten mit dem Satz: „Sie wollen doch nicht ihre Mutter (oder Vater) verhungern lassen?!” zur Einwilligung der PEG-Legung gedrängt. Hier sollte man sich von ärztlicher Seite mehr Zeit nehmen, den Angehörigen die Folgen einer solchen Maßnahme zu erklären. Viele würden ihre Zustimmung verweigern, wenn ihnen verständlich gemacht werden würde, dass es eine Verlängerung des Siechtums und der Qualen um Tage, Wochen, manches mal sogar um Monate mit sich bringt. Sie würden ihren Angehörigen in vielen Fällen wieder mit nach Hause nehmen, wo er in Ruhe und Frieden sterben kann. Einen humanen Grund kann es in meinen Augen bei solchen Patienten für eine PEG nicht geben.

Immer wieder werden Patienten eingewiesen mit der Diagnose „Nahrungsverweigerung”, bei denen daraufhin eine PEG gelegt wird. Bei meiner langjährigen Tätigkeit auf Station habe ich es immer wieder erlebt, dass Patienten, die gefüttert wurden, die Lippen aufeinander gepresst haben, sobald ich mit dem Löffel oder der Gabel ihren Mund berührt habe. Das Trinken aus einer Schnabeltasse oder mit Strohhalm haben sie akzeptiert. Es ist noch ihre letzte Möglichkeit mitzuteilen, dass sie nicht mehr leben möchten. Dies nimmt man ihnen noch, indem man ihnen eine Ernährungssonde legt. Viele Ärzte und Schwestern/Pfleger die ich kenne, würden eine solche Maßnahme bei sich, in der gleichen Situation ablehnen.

Hier sollte meiner Meinung nach nicht nach Gesetzen, Diagnosen, Vorschriften und Standards vorgegangen werden, sondern es sollte in erster Linie der Mensche gesehen werden, der vor einem liegt und ein humanes Handeln von uns verlangt. Auf einer Beileidskarte las ich vor kurzem den Spruch: „Nicht das Leben gehört zum Tod, sondern der Tod zum Leben”. Dieses natürliche Verständnis ist uns heute verloren gegangen. Auch die Menschen mit einer PEG-Sonde müssen sterben, nur mit dem Unterschied, dass ihr Leiden und der Sterbeprozess verlängert wird.

Sehe ich es aus meiner Sicht, mit dem Wissen, dass ich als Krankenpfleger habe, bin ich froh, dass meine Großmutter in einer Zeit sterben durfte, in der es noch keine PEG-Sonde gab.

Walter Müller

Endoskopiepfleger

Königreicher Weg 3

66903 Frohnhofen