PiD - Psychotherapie im Dialog 2007; 8(2): 162-167
DOI: 10.1055/s-2007-970881
Interview
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Was können wir beim Beenden von Therapien voneinander lernen?

Andrea  Ebbecke-Nohlen, Alf  Gerlach und Alfred  Kappauf im Gespräch mit Jochen  Schweitzer und Michael  Broda
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Publication Date:
01 June 2007 (online)

Im Rahmen der letzten PiD-Tagung in Baden-Baden moderierten Jochen Schweitzer und Michael Broda ein Laboratorium zur Frage „Wann ist zu Ende therapiert?” Das folgende Gespräch fasst die Kernaussagen der einzelnen ReferentInnen der Veranstaltung zusammen.

PiD: Geschehen die meisten Veränderungen in der Psychotherapie, wie Forschungsergebnisse sagen, nicht in den ersten zehn Sitzungen?

Alf Gerlach: Viele Veränderungen geschehen tatsächlich in den ersten zehn Sitzungen. In der Psychoanalyse ist dieses Phänomen übrigens als sogenannte „Übertragungsheilung” diskutiert worden, worunter wir ein Nachlassen der Symptome unter dem Ansturm heftiger positiver Übertragungsgefühle verstehen. Allerdings zeigt sich, dass diese ersten Veränderungen oft nicht die Stabilität besitzen, die wir uns wünschen. Im therapeutischen Prozess ist i. d. R. ein mehrfaches und längeres „Durcharbeiten” erforderlich, bis Veränderungen eine lang andauernde Stabilität aufweisen. Darauf weisen vor allem die Ergebnisse von Langzeitkatamnesen nach Psychotherapien hin.

Leider berücksichtigt ein Teil der durchgeführten Studien zur Frage der Veränderungen in der Anfangsphase von Psychotherapien auch nicht die Versorgungsrealität. Die Durchschnittslänge der Therapiedauer bei randomisierten kontrollierten Studien in der Verhaltenstherapie von elf Sitzungen lässt sich nur erzielen, wenn, wie es die RCT-Forschungsbedingungen erfordern, Patienten mit Monosymptomatik unter Laborbedingungen nach einer manualisierten Therapie behandelt werden. Patienten mit Monosymptomatik kommen in meiner Praxis und in der Praxis der meisten Niedergelassenen aber nicht vor.

Alfred Kappauf: Unter dem Blickwinkel, dass Veränderungen immer Veränderungen der Aufmerksamkeitsfokussierung ausdrücken, sollten sich m. E. die Veränderungen sehr früh in der Behandlung zeigen. Eine wirksame Therapie soll ja neue Perspektiven eröffnen, also die Aufmerksamkeit erweitern bzw. in eine neue Richtung lenken. Wenn keine Veränderungen frühzeitig bemerkbar sind, ist anzunehmen, dass eine ungewollte Rollenfestlegung in der Patient-Therapeut-Beziehung stattgefunden hat, d. h. dass der Patient derjenige ist, der die Aufmerksamkeit des Therapeuten erfolgreich in seiner (lösungshinderlichen) Problemsicht fixiert. Für den Patienten entsteht keine neue Perspektive, sondern er bekommt nur Gesellschaft durch den Therapeuten - im Gelände des Problems - geteiltes Leid ist doppeltes Leid!

Wenn es am Anfang der Therapie gelingt, Erwartungen und Hoffnungen durch orientierungsgebende und remoralisierende Strukturierung zu wecken, kommt es rasch zu einer Reduzierung der emotionalen Belastung: Patienten berichten oft bereits nach dem ersten Kontakt, dass sie sich merklich erleichtert fühlen. Das ist noch nicht die erfolgreiche Therapie, aber nur wenn Patienten mit ihren Problemen auf einem erträglichen emotionalen Belastungsniveau bei gleichzeitiger Ressourcenaktivierung konfrontiert werden, sind Therapieerfolge am wahrscheinlichsten. Die stabile Veränderung fest geprägter dysfunktionaler Muster, das Erlernen neuer Rollen und die stabile Verbesserung des allgemeinen Funktionsniveaus auf diesen Grundlagen wird jedoch in der Regel mehr (Übungs-)Zeit in Anspruch nehmen, ob mithilfe des Therapeuten oder für den Patienten allein.

Jede Phase einer Therapie kann außerdem für den Patienten besonders ressourcen- oder auch problemaktivierend sein und bietet somit spezielle Utilisierungsmöglichkeiten. Manche Patienten finden bereits über eine (Um-)Strukturierung der Belastungssituation, die Anlass für die Therapie war, wieder den Zugang zu ihren eigenen Problemlösungsressourcen. Einige Patienten sind dagegen (leidende) Überlebenskünstler im Kontext von chronischen multimodalen Belastungsbedingungen, kommen aber an ihre Erfahrungsgrenzen, in emotionale Krisen und belastungsreinszenierende Handlungsmuster, wenn die Störungen (fast) abgeflacht sind und sich Normalitätsanforderungen stellen. Andere Patienten wiederum erleben den Abschluss der Therapie in Analogie zu früheren prägenden Verlust- und Trennungserfahrungen und profitieren evtl. am meisten von der professionellen Bearbeitung dieser emotionalen Inhalte - im Rahmen der Gestaltung des Therapieabschlusses, nicht anstelle eines Abschlusses!

Andrea Ebbecke-Nohlen: Nur unter der Prämisse, dass die meisten Veränderungen in den ersten zehn Sitzungen auf den Weg gebracht werden, machen kurzzeittherapeutische Ansätze überhaupt Sinn. Damit diese Veränderungen von den KlientInnen eingeleitet werden können, sind aus systemischer Sicht verschiedene Faktoren ausschlaggebend, die sich unter zwei Stichworten subsumieren lassen: die Gestaltung der therapeutischen Beziehung und der Aufbau des therapeutischen Prozesses.

Die therapeutische Beziehung wird besonders durch eine sorgfältige Auftragsklärung geprägt. Dies ermöglicht schon zu Beginn einer Therapie die theoretische Vorwegnahme ihres erwünschten Endes, dadurch dass Befürchtungen und Erwartungen an die Psychotherapie ausgesprochen, Therapieziele formuliert und vermutete Auswirkungen reflektiert werden können. Ein anderer wichtiger Moment in der anfänglichen Phase der Auftragsklärung liegt in der besonderen Berücksichtigung von Ambivalenzen, d. h. sich widersprechenden Zielsetzungen. Hier kommt der Erwartungsenttäuschung durch die TherapeutIn eine besondere Rolle zu, die darauf aufmerksam macht, dass auch zweitbeste Lösungen und nicht nur lineare Wege zu einem Therapieerfolg dazugehören können. Zu der Gestaltung der therapeutischen Beziehung gehört des Weiteren, das Krankheitsmodell nicht zum vorherrschenden Paradigma werden zu lassen, sondern bei KlientInnen, wie Herr Kappauf schon erwähnt hat, salutogenetische Aspekte zu fördern, die es ihnen ermöglichen, Verständnis sich selbst gegenüber zu entwickeln, die Verantwortung für das eigene Verhalten zu übernehmen und konkrete Veränderungsschritte zu entwerfen und umzusetzen.

Für den therapeutischen Prozess stellt der Perspektivenwechsel eine passende Metapher dar. Zu Beginn einer Therapie werden nicht nur Anfang und Ende zueinander in Beziehung gesetzt und erwünschtes Verhalten konkretisiert, auch der Blick auf die Symptomatik bzw. Problematik verändert sich. Im systemischen Ansatz werden Symptome eher - wie auch in der ursprünglichen Bedeutung des Begriffs - als vorübergehende Eigentümlichkeiten oder als Zeichen für etwas angesehen. Sie gelten weniger als Ausdruck eines Defizits, sondern eher als Lösungsversuche für existenzielle Herausforderungen. Sie werden als Ressourcen betrachtet, die z. B. darauf hinweisen, dass der menschliche Organismus gerade dabei ist, auf ein entstandenes gesundheitliches Ungleichgewicht zu reagieren und es auszugleichen.

Nehmen wir als Beispiel die depressive Symptomatik, zu der u. a. Merkmale wie Lustlosigkeit, Passivität und getrübte Stimmung sowie der Verlust der Resonanz- und Reaktionsfähigkeit zählen können. Wenn systemisch orientierte TherapeutInnen sich darum bemühen, depressives Verhalten als Lösungsversuch zu verstehen, dann kann ihr Hauptinteresse nicht dahin gehen, alle die Dinge zu explorieren, zu denen KlientInnen nicht mehr fähig sind oder die Entwicklungsgeschichte dieser Einschränkungen in ihrer Gänze nachzuzeichnen. Stattdessen steht in der systemischen Therapie die Beschreibung des Kontextes im Vordergrund, in dem das depressive Verhalten gezeigt wird. Gemeinsam mit den KlientInnen werden Hypothesen entwickelt über die beziehungsgestaltenden Wirkungen der Symptomatik und ressourcenorientiert erforscht, welche Lösungsversuche in den geschilderten Problemen bereits enthalten sind. In der systemischen Therapie suchen TherapeutInnen nach den „guten Gründen” für das beanstandete Verhalten und fragen ihre Klientinnen z. B. direkt danach, was sich seit Bestehen der depressiven Symptomatik in ihrem Leben geändert hat und wofür die Depression in diesem Zusammenhang ein Lösungsversuch sein könnte.

Dem Perspektivenwechsel kommt also eine zentrale Rolle im Therapiegeschehen zu. Es geht dabei allerdings nicht um den Austausch einer Sichtweise durch eine andere oder um einen einmaligen Vorgang in der Veränderung des Blickwinkels. Perspektivenwechsel in systemischem Sinne bedeutet den wiederholten Wechsel in unterschiedliche Positionen und Sichtweisen und damit kontinuierliche Bewegung. In [Abb. 1] kommt gut zum Ausdruck, dass dies nicht nur einen kontinuierlichen Wechsel der Themen beinhaltet (Begrüßung, Fragestellung, gemischte Gefühle, gute Gründe, Visionen, konkrete nächste Schritte und Abschied), sondern auch einen Wechsel der Zeitebene bedeutet, von der Gegenwart in die Zukunft und von der Zukunft wieder in die Gegenwart.

Abb. 1 Der Perspektivenwechsel auf der Prozessebene.

Ist längere Therapie nicht auch häufig bessere Therapie?

Alfred Kappauf: Eine längere Therapie ist nur positiv, wenn sie dem Erlernen neuer Rollen sowie der Erweiterung und Festigung der Handlungskompetenzen dient. Wenn ein Prozess der Remoralisierung nicht zeitnah verknüpft wird mit Erfahrungen, die die Hoffnung nähren, kommt es zu Frustration, zu einer erneuten Demoralisierung. Allerdings ist nicht nur die Behandlungsstrategie relevant, sondern auch der Kontext, d. h. die Art des Problems. Bekanntlich reicht der Wunsch, ins tiefe Wasser zu springen, nicht aus, sondern das Wasser muss auch tief sein. Genauso gibt es chronische bzw. unheilbare Erkrankungen, die komplexe adaptive Schritte erfordern, welche eher in einer längerfristigen (supportiven) Behandlung gefördert werden. Das olympische Leistungsethos „schneller, höher, weiter” ist für viele Behandlungsprozesse mehr Teil des Problems als dass es als hilfreiche Lösungsvorsatzformel taugt.

Andrea Ebbecke-Nohlen: Vorteile längerer Therapien liegen darin, dass TherapeutInnen ihre KlientInnen länger auf ihrem Lebensweg begleiten, ihre Erfahrungen teilen, Rückfälle in alte Muster auffangen und Ressourcen fördern können. Klientinnen haben so die Möglichkeit in ihren TherapeutInnen Lebensbegleiter zu finden, mit denen sie ihre Erfahrungen immer wieder reflektieren und überprüfen können.

Nachteile längerer Therapien liegen allerdings darin, dass TherapeutInnen Gefahr laufen, Teil des Problemsystems zu werden, insofern als ihre KlientInnen Probleme immer wieder in die Therapiestunden tragen, statt sie im Alltag da anzugehen und zu lösen, wo sie entstehen. KlientInnen lernen in längeren Therapien zwar häufig auch, Mut und Zuversicht zu tanken und sich nach den Sitzungen besser zu fühlen, sie lernen oft jedoch nicht, ohne ihre TherapeutIn zu tanken und sich selbst von ihren Problemen zu entlasten. Oft neigen KlientInnen in längeren Therapien auch dazu, in der Rolle von Klagenden zu bleiben oder in diese Rolle zurückzufallen, statt Eigenverantwortung für ihr Leben zu übernehmen. Im systemischen Ansatz, der ja ein kurzzeittherapeutischer ist, wird die Auffassung vertreten, dass die Vorteile kürzerer Therapien auf der Hand liegen - nicht nur was Zeit und Geld betrifft. Auch die Verkürzung des Leidensdrucks der KlientInnen, der ja wohl vorhanden ist, solange eine Therapie andauert, ist ein wichtiges Argument. Das Gefühl, eine Therapie mit überschaubaren Zielen in absehbarer Zeit erfolgreich abgeschlossen zu haben, hilft auch weitere Veränderungswünsche mit Hoffnung auf Erfolg verwirklichen zu wollen.

Alf Gerlach: Diese Frage muss auch aus meiner Sicht des Analytikers eindeutig verneint werden. Die Länge einer Behandlung ist nicht von vorneherein der entscheidende Faktor, sondern steht immer in Relation zur spezifischen Indikationsstellung. Im Bereich der Anwendungen der psychoanalytischen Methode, aber auch bei den nichtanalytischen Psychotherapien, ist vor allem die „Passung” zwischen Behandler und Patient ein entscheidendes Kriterium für den Behandlungserfolg.

Warum beenden PsychotherapeutInnen möglicherweise ihre Therapien nicht früher?

Andrea Ebbecke-Nohlen: Gründe für eine über das Notwendige hinausgehende Therapiedauer liegen m. E. vor allem im ökonomischen Bereich, in der Dominanz des Krankheitsmodells und in dem Vorrang des bürgerlichen Lebensideals. Da die Antragstellung bei den Richtlinienverfahren mit hohem Aufwand verbunden ist, nutzen viele RichtlinientherapeutInnen die im Antrag bewilligten Stunden bis zur letzten genehmigten Sitzung. Zudem sind die fünf probatorischen Sitzungen so gering bezahlt, dass erst nach der Bewilligung der Anträge die Stundensätze einer angemessenen Honorierung nahe kommen. Auch eine nicht vorhandene Warteliste, besonders in Gegenden mit hoher TherapeutInnendichte gibt häufig Anlass, alle Sitzungen zu nutzen oder Verlängerungsanträge zu stellen. Die Dominanz des Krankheitsmodells verführt des Weiteren manche TherapeutInnen dazu, über lange Zeit Defizite zu explorieren statt Ressourcen zu suchen und manchmal die Fremdverantwortung gegenüber ihren KlientInnen vor deren Eigenverantwortung zu stellen und sie dadurch ungewollt in ihrer Entwicklung zu bremsen. Dazu kommt, dass das bürgerliche Lebensideal Therapeutinnen dazu verleitet, Ziele für ihre KlientInnen zu formulieren, die diese für sich selbst in dieser Form nicht haben.

Alf Gerlach: In die mögliche Länge einer Behandlung kann aber auch falscher Ehrgeiz und eine überzogene narzisstische Haltung des Therapeuten eingehen, die über ein mögliches Ende hinaus therapieverlängernd benutzt werden oder in gegenteiligen Fällen mit einem Wunsch einhergehen können, einen möglichst schnellen Erfolg zu erzielen. Hier ist kontinuierliche Selbstreflexion, auch in Supervision und Intervision, gefragt. Auch ein perfektionistisches Ich-Ideal des Therapeuten kann schädliche Auswirkungen haben. Möglicherweise schrecken einige Therapeuten davor zurück, eine Begrenzung der Behandlung zu setzen, weil sie dies als eine zu weitgehende Aggression dem Patienten gegenüber erleben.

Alfred Kappauf: Es ist oft schwierig aufzuhören, wenn es am schönsten ist, d. h., wenn der Therapeut selbst viel Bestätigung durch das Miterleben von gewünschten Veränderungen bekommt. Außerdem ist, wie auch Frau Ebbecke-Nohlen bemerkt, ein gewisses Stundenkontingent genehmigt, über den zeitaufwendigen Bericht an den Gutachter. Der Verwaltungsaufwand erhält eine günstigere Relation, wenn eine Therapie im Umfang des vollen genehmigten Kontingentes realisiert wird.

Therapeuten können evtl. auch ein zu großes Maß an Verantwortungsübernahme für die Veränderungsprozesse zeigen, d. h. sie begegnen der Eigenkompetenz des Patienten mit Misstrauen und zusätzlich argwöhnen sie bezüglich der Stabilität der positiven Veränderungen, wenn diese noch nicht „vorgesehen” waren und damit nicht auf intentionale Therapieeinheiten attribuierbar sind.

Kann eine bestimmte Dauer und/oder Frequenz der Therapie für PatientInnen besonders hilfreich oder auch schädlich sein?

Alf Gerlach: Es gibt Patienten, die nur in einer ausreichend langen und hochfrequenten Behandlung an traumatische Seiten ihres Erlebens gelangen. Umgekehrt kann eine zu regressionsfördernde Dichte der Frequenz zu einer Gefährdung des Patienten führen. Hier ist die Ich-Stärke des Patienten der entscheidende Faktor, der vor Beginn der Behandlung eingeschätzt werden muss.

Alfred Kappauf: Nicht die Dauer; sondern mehr die implizite Rollendefinition legt die Auswirkung fest. Wenn eine lang andauernde Therapie mit hoher Frequenz gleichzeitig vom Patienten ein geringeres Maß an Verantwortungsübernahme für Veränderungen fordert, er also im Wesentlichen nur die Verantwortung der regelmäßigen Anwesenheit hat, entstehen vor allem Behandlungskosten für die Kasse, jedoch kaum Veränderungen bezüglich der Therapieziele. Selbstwirksamkeitserfahrungen sind weniger wahrscheinlich, weil die Problemlösung beim Therapeuten gesehen wird.

Andrea Ebbecke-Nohlen: In der systemischen Familientherapie liegt ein durchschnittlicher Sitzungsabstand bei ca. vier Wochen. Hohe Frequenz von täglichen oder wöchentlichen Sitzungen hat aus systemischer Sicht überwiegend Nachteile. Tägliche Treffen mit den TherapeutInnen bergen die Gefahr, die Therapie mit dem Leben zu verwechseln. Selbst Sitzungen in einwöchigem Abstand erlauben es KlientInnen in der Regel nicht ausreichend, ihre in den Therapiestunden gewonnenen Einsichten auch umzusetzen. Ideal wäre es, wenn Frequenz und Dauer auf KlientInnen maßgeschneidert abgestimmt werden könnten. Interessant ist selbstverständlich die Frage, ob die Frequenz einer Therapie zu niedrig und ihre Dauer zu kurz sein können. Ausgehend von der Idee, dass systemische Kurzzeittherapie grundsätzlich auftragsorientiert, d. h. kundenorientiert ist, kann diese Frage verneint werden, da Frequenz und Dauer mit den KlientInnen abgesprochen werden und deren Bedürfnissen entsprechen. Gibt es eine über die anfänglich ausgehandelten Rahmenbedingungen hinausgehende Nachfrage, kann auch hier im Sinne eines für die KlientInnen passenden Settings flexibel reagiert werden.

Gibt es aber dann Störungsbilder, Persönlichkeitsstrukturen oder Systemkonstellationen, die besonders für kurze oder lange Dauer prädestiniert erscheinen?

Alfred Kappauf: Bei Personen, die bereits durch eine signifikante Reduzierung der emotionalen Belastung (z. B. über Reframing) wieder in die Lage versetzt werden, die Probleme mit ihren eigenen Ressourcen eigenständig zu bewältigen, treten „Wunderheilungen” auf bzw. kann eine kurze Therapie völlig angemessen sein.

Bei persönlichkeitsstrukturellen Störungskomponenten, Komorbidität sowie der Anpassung an stabile Beeinträchtigungen mit dem Abschiednehmen von wesentlichen Lebenszielen bekommt eine Therapie eine Halt gebende Funktion in einem Prozess von Neuorientierung, die längere Zeit in Anspruch nehmen kann.

Andrea Ebbecke-Nohlen: Psychosen, Zwänge, Depressionen und Borderline-Störungen scheinen zunächst Diagnosen zu sein, die auf eine längere Therapiedauer verweisen. Auch hier gilt allerdings aus systemischer Sicht, dass kurzzeittherapeutische Verfahren durchaus Erfolg versprechend sind. Die Kürze der Zeit erlaubt eine hohe Konzentration auf das Wesentliche und kann damit gerade bei schon länger bestehender Symptomatik einen relevanten Unterschied zu früheren Behandlungen machen. Bei Ersterkrankungen ist der kurzzeittherapeutische Ansatz ebenfalls von Vorteil, da er in einem überschaubaren zeitlichen Rahmen einen Überblick und damit ein Verständnis für die eigene Situation erlaubt. Falls eine langfristige Begleitung angezeigt ist, kann nach den ersten erfolgreichen Schritten eine niederfrequente Therapie, z. B. eine Sitzung im Quartal, ins Auge gefasst werden.

Alf Gerlach: Hochfrequente analytische Psychotherapie mit langer Dauer ist vor allem dann indiziert, wenn eine neurotische Erkrankung mit Störungen in der narzisstischen Selbstwertregulation akzentuiert ist, wenn unbewusste Konflikte in einer Charakterneurose gebunden sind, wenn eine besonders intensive, Sicherheit und Halt gewährende Funktion des Therapeuten erforderlich ist oder wenn in der Abwehrstruktur Spaltung und projektive Mechanismen vorherrschen.

Lassen sich schwerwiegende Bindungs- oder Persönlichkeitsprobleme überhaupt innerhalb der Richtlinienpsychotherapie ausreichend behandeln?

Alf Gerlach: Die Psychotherapie-Richtlinien bieten mit ihren Kontingenten einen festen Rahmen, der für die Behandlung vieler auch schwerwiegender Bindungs- oder Persönlichkeitsprobleme ausreichend ist. Im Einzelfall ist hier allerdings auf die Formulierung „in der Regel” bei der Festsetzung der Kontingente zurückzugreifen, die eine Möglichkeit zur Beantragung weiterer Leistungen eröffnet. Auf diese Weise sind im Bereich der Anwendungen der psychoanalytischen Methode, z. B. bei tiefenpsychologisch fundierter Psychotherapie, Behandlungsverläufe über 100 Sitzungen hinaus, bei analytischer Psychotherapie auch über 300 Sitzungen hinaus mit Finanzierung durch die Krankenkassen möglich.

Alfred Kappauf: Das Konzept der klar definierten und begrenzten Therapiestundenkontingente ist unangemessen, wenn es um supportive, niederfrequente Behandlungen bei chronischen Erkrankungen geht, die sowohl somatisch als auch psychisch kein Ende durch Heilung haben.

Andrea Ebbecke-Nohlen: Bei diesen Diagnosen ist es vermutlich besonders wichtig, einen flexibilisierten Umgang mit Frequenz und Dauer einer Therapie zu ermöglichen. Die starre Vorgabe durch die Psychotherapie-Richtlinien erschweren eine angemessene Begleitung.

Gibt es „Therapiesucht” und kann lange Therapie sie fördern?

Andrea Ebbecke-Nohlen: Heutzutage läuft alles, was exzessiv betrieben wird, Gefahr, als Sucht deklariert zu werden. Zu einer exzessiv langen Therapie gehören immer mindestens zwei Seiten. Solange es Therapieverfahren gibt, die hochfrequente, über Jahre dauernde Therapien für angemessen halten, wird es Klientinnen geben, die genau dieses nachfragen. Solange ein solches Verfahren auch noch von Dritten bezahlt wird, gehört es offensichtlich zu den Wahlmöglichkeiten der Psychotherapieszene.

Alf Gerlach: Meiner Erfahrung nach kommt es aber hier weniger auf die Länge einer Behandlung als auf die therapeutische Haltung an: Bei einem Überwiegen einer verwöhnenden Einstellung und einem Mangel an notwendiger Konfrontation trägt diese Haltung zu unnötigen Verlängerungen von Behandlungen bei.

Alfred Kappauf: Therapie ist nicht in jedem Fall veränderungsinduzierend, sondern kann auch eine Alternative zu Veränderung sein. Daher ist eine Zielklärung und Motivprüfung sinnvoll. Je nach den attribuierten Rollen für den Therapeuten wird der Therapieprozess förderlich oder störungsverstärkend verlaufen. Wenn der Therapeut seine Rolle und seine methodischen Schwerpunkte im Rahmen einer langen Therapie nicht kontinuierlich an die zunehmenden Autonomieschritte und -zumutungen des Patienten anpasst, muss der Patient die Rigidität des Therapeuten neutralisieren, damit ihm Veränderungen gelingen.

Welchen Einfluss haben Bewilligungskontingente der Kostenträger auf Therapiedauern? Welche Richtlinien und welche Bewilligungspraxis würden Sie sich im Blick auf Therapiedauer wünschen?

Alfred Kappauf: Es ist anzunehmen, wie oben schon ausgeführt, dass die Bewilligungskontingente die Behandlungsdauer stark vorprägen.

Alf Gerlach: Sicher haben die Bewilligungskontingente der Richtlinienpsychotherapie einen entscheidenden Einfluss auf die üblicherweise vorzufindenden Therapiedauern. Sie bieten andererseits aber auch ausreichend Flexibilität, vor allem unter Einbeziehung der Möglichkeit, im individualisierten Bewilligungsverfahren vorgegebene Kontingente zu unter- oder zu überschreiten. Dringend erforderlich halte ich die Wiedereinführung, kontinuierlich und über alle Bewilligungsschritte hinweg in der analytischen Psychotherapie auch mit einer Frequenz mit mehr als drei Sitzungen pro Woche zu arbeiten, da es hierfür eindeutige Indikationen gibt.

Andrea Ebbecke-Nohlen: Die systemische Therapie unterliegt nicht den Vorgaben der Richtlinienverfahren. Der nicht zu übersehende Nachteil dieser Regelung liegt darin, dass die Kosten von den KlientInnen selbst getragen werden müssen und KlientInnen, die diese Kosten nicht begleichen können, nicht in den Genuss dieser Therapieform kommen. Der Ausschluss aus der Richtlinienregelung hat allerdings auch Vorteile. Die dadurch entstehenden Freiheitsgrade ermöglichen TherapeutInnen und KlientInnen stärker in Kosten-Nutzen-Rechnungen zu denken und stärker das therapeutische Setting in Dauer und Frequenz individuell an die Bedürfnisse der KlientInnen anzupassen.

Wie lösen Sie den Widerspruch zwischen intensiver Hilfe für Einzelne und langen Wartelisten? Hat für Sie Therapiedauer etwas mit Versorgungsgerechtigkeit und den schichtspezifisch sehr unterschiedlichen Zugangsmöglichkeiten zur Psychotherapie zu tun?

Alfred Kappauf: Zur Versorgungsgerechtigkeit gehört auch, dass einige Patienten eine Langzeitunterstützung bekommen, bei denen dies erforderlich ist. Wartelisten erweisen sich in meiner Praxis als untauglich. Ich nehme neue Patienten mehr nach Dringlichkeitsgesichtspunkten auf. Eine weitere Selektion findet statt durch die funktionierende Kooperation in lokalen Netzwerken (mit einigen Hausärzten/Kinderärzten) und mit der vorrangigen Betreuung eines Patientenstamms: Wer bereits früher in der Praxis war, wird vorrangig berücksichtigt. In meine Praxis kommen auch Patienten aus psychotherapiefernen sozialen Schichten, z. T. auch über die Kooperation mit Bewährungshelfern bei Sexualstraftätern, Jugenddelinquenz, sodass sich eine schichtspezifische Selektion (die für den Zugang zur medizinischen Versorgung allgemein gilt und nicht psychotherapiespezifisch ist) relativiert.

Alf Gerlach: In meiner Praxis löse ich diesen Widerspruch, indem ich insgesamt drei analytische Gruppenpsychotherapien anbiete, die bei geeigneter Indikation allzu lange Wartezeiten vermeiden helfen. Für mich ist nicht die Therapiedauer mit Versorgungsgerechtigkeit verknüpft, sondern die immer noch mangelnde Anzahl von niedergelassenen Psychotherapeuten und die institutionellen Fehler der Zulassungsregulierung.

Welche Rolle spielt die Frage der Beendigung in ihren jeweiligen Ausbildungsinstituten?

Andrea Ebbecke-Nohlen: In der systemischen Familientherapie spielt die Frage der Beendigung von Therapien eine besondere Rolle und wird unter verschiedenen theoretischen und praktischen Gesichtspunkten diskutiert. Schon in der Auftragsklärung wird das Ende der Therapie angesprochen, z. B. mit der Frage: „Angenommen es würde uns gelingen, erfolgreiche therapeutische Gespräche zu führen, was würden Sie nach diesen Gesprächen anders machen, was möglicherweise anders denken oder fühlen?” Die an dieser Stelle genannten Aspekte stellen Kriterien für ein erfolgreiches Therapieende dar und geben dem therapeutischen Prozess einen Rahmen. Die Frage der Beendigung ist allerdings nicht nur dem Therapieende vorbehalten. Zwischenbilanzen, in denen zur Sprache kommt, was bereits hilfreich war, was nicht und was noch fehlt, ermöglichen TherapeutInnen und KlientInnen einander Feedback zu geben. Die Berücksichtigung von Anfang und Ende sind zudem für jede einzelne Sitzung relevant. Unabhängig von den Gesamtaufträgen können KlientInnen zu Beginn jeder Sitzung gefragt werden, was sie besprechen wollen, um durch die Sitzung einen Schritt weiter zu kommen. Und TherapeutInnen können das Ende einer Sitzung nutzen, um einen Schlusskommentar zu geben, indem sie zusammenfassen, was aus ihrer Sicht wichtig war und wie es weitergehen könnte. Sie können Anregungen in Form von Beobachtungs- oder Verhaltensaufgaben geben und bereits gelingende Aspekte wertschätzen. In den Curricula wird auf diese Aspekte und auf die theoretischen und methodischen Gesichtspunkte der Gestaltung des therapeutischen Prozesses und der therapeutischen Beziehung größter Wert gelegt.

Alf Gerlach: In der Ausbildungsarbeit in den psychoanalytischen Instituten, deren Mitglied ich bin, gehören Fragen der Beendigung zum Ausbildungscurriculum und werden in den Falldiskussionen besonders intensiv betrachtet.

Alfred Kappauf: In den Instituten scheint das Bewilligungskontingent eine vorrangige Rolle für die Entscheidungsfindung zu spielen. Manchmal übernehmen Modulvorgaben diese Steuerungsfunktion. Konzeptionell scheint das Thema Abschluss als wesentliche ressourcenorientierte Weichenstellung für die Nachhaltigkeit einer Therapie bisher in der Ausbildung vernachlässigt; es finden sich eher eindimensionale defizitorientierte Perspektiven, in denen entweder eine „Therapiesucht” beim Patienten oder eine Insuffizienz beim Therapeuten unterstellt wird.

Wir danken Ihnen für dieses Gespräch

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