PiD - Psychotherapie im Dialog 2007; 8(2): 191-193
DOI: 10.1055/s-2007-970878
Im Dialog
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

„Raus aus dem Schatten, rein ins Licht”

Psychotherapie bei Epilepsiepatienten?Gerd  Heinen im Gespräch mit Philine  Senf
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Publication Date:
01 June 2007 (online)

PiD: Lieber Gerd, Epilepsie ist ja vor allem als eine neurologisch-körperliche Erkrankung bekannt, die man mit Medikamenten zu behandeln versucht. Du hast ein psychotherapeutisches Verfahren entwickelt, welches du bei Epilepsiepatienten anwendest. Ist das nicht ungewöhnlich?

Gerd Heinen: Die neurologische Störung des Gehirns besteht bei einer Epilepsie ja fortwährend als Grunderkrankung. Die Frage, die mich besonders interessiert, ist aber: Was macht die Menschen in bestimmten Situationen anfälliger als in anderen Situationen? Warum bekommen sie ausgerechnet heute einen Anfall und nicht morgen? Diese Anfälligkeit eines Menschen wird durch das Zusammenspiel ganz unterschiedlicher äußerer und innerer Faktoren beeinflusst, die über das rein Biologische hinausgehen. Häufiger können emotionale Veränderungen die Anfälligkeit eines Menschen erhöhen, zum Beispiel kontinuierliche Überforderung oder ein Gefühl der Wut, welches nicht adäquat ausgelebt werden kann. Schlafmangel oder übermäßiger Alkoholkonsum kann natürlich auch anfallsfördernd wirken. Aber es hat sich als bedeutsam herausgestellt, einzelne Faktoren nicht isoliert zu betrachten.

Die genetische Veranlagung spielt aber immer noch eine Rolle?

Auch die genetische Veranlagung spielt eine Rolle. Man spricht heute ja übrigens nicht mehr von der einen Epilepsie, sondern es gibt viele verschiedene Epilepsien, bei welchen die Veranlagung mal eine größere, mal eine kleinere Rolle spielt. Im Wesentlichen unterscheiden wir aber zwischen zwei Dingen: Auf der einen Seite stehen die Ursachen einer Epilepsie, die organischen Faktoren, Dinge, wie die genetische Veranlagung, Unfälle verbunden mit Hirnverletzung, durch Erkrankung entstandene Labilitäten des Gehirns. Auf der anderen Seite gibt es aber dann auch anfallsfördernde Faktoren. Früher wurde hier von Auslösern eines Anfalls gesprochen, was wir heute vermeiden, da das Wort „Auslöser” auf ein vereinfachtes Reiz-Reaktions-Schema hinweist. Durch die Benennung „anfallsfördernde Faktoren” wird deutlich, dass es sich um einen Prozess handelt, der auf einen Anfall hinführt. Die Ursachen, welche eine Art Nährboden für die Erkrankung darstellen, und die den Anfall fördernden Faktoren führen dann gemeinsam zu einem Anfallsgeschehen. Leider ist es oft nicht leicht, die anfallsfördernden Faktoren wirklich herauszufinden, und wenn das gelingt, kann es Probleme geben, sie zu beeinflussen!

Ähnelt deine Arbeit der bei Patienten mit rein psychogenen, funktionellen Anfällen?

Psychogene Anfälle haben einen anderen Hintergrund, es handelt sich nicht um Anfälle aus epileptischer Ursache, sondern um Anfälle mit einem rein seelischen Hintergrund. Allerdings ähnelt sich die Art, in einer Therapie mit dem Problem umzugehen. Man fragt sich: Wann tritt ein epileptischer Anfall auf, und konkret gefragt: Warum tritt er genau in dieser Situation auf? Das ist eine ähnliche Betrachtungsweise. Auch sehr ähnlich: Der Anfall wird erlebt als ein plötzlicher Kontrollverlust im Leben der Menschen. Die Ursachen aber sind absolut verschieden. Trotzdem sage ich ganz klar: Es gibt auch epileptische Anfälle, die seelisch mitbedingt sind.

Der Aspekt „Kontrollverlust” bei Epilepsie interessiert mich. Kannst du dazu noch etwas sagen?

Auch psychische Probleme, die durch die Erkrankung auftreten, spielen bei Epilepsien eine große Rolle. Vor allem bei den Temporallappenepilepsien gibt es Studien, die auf eine große psychische Komorbidität hinweisen, die zum Teil unter erfolgreicher medikamentöser Therapie wieder verschwindet. Aber es gibt auch reaktive Störungen. Bei vielen Menschen löst der plötzliche Kontrollverlust in einem Anfall Angst aus, weil das Wesen von Angst ja im Grunde der Verlust von Kontrolle über uns selbst ist. Das wiederum führt zu einem sekundär hohen Kontrollbedarf dieser Menschen. Daraus können beispielsweise Zwangsstörungen resultieren, bestärkt durch den Wunsch, wieder Kontrolle über die Situation zu erlangen.

Auch Depression ist eine häufige Begleiterkrankung, oft in Verbindung mit einem Gefühl der Abhängigkeit. Wenn das Haus verlassen wird, begleitet viele Menschen mit Epilepsie das Gefühl, sich irgendwie absichern zu müssen. Nicht selten ist dabei auch die Angst der Angehörigen, dass etwas passieren könnte, ein gravierender Verstärker. Das Empfinden, auf andere Personen angewiesen zu sein, sich selbst möglicherweise nicht helfen zu können, kann zu Selbstwertproblemen führen.

Entstehen nicht auch häufig soziophobische Probleme?

Interessant ist, dass Epilepsie häufig im Verborgenen stattfindet. Die wenigsten Anfälle passieren auf der Straße, und wenn ein Mensch keinen Anfall hat, dann sieht man ihm seine Erkrankung ja nicht an! Wegen dieser vermeintlichen Unsichtbarkeit gibt es auch eine Tendenz, die Krankheit zu verstecken. Die wenigsten Epilepsiekranken sind in Selbsthilfegruppen organisiert, und durch diese lange Zeit des Versteckens ist auch ein enormer Druck in der Gesellschaft entstanden, die Anfälle weiter zu verbergen. Deshalb werben die Selbsthilfegruppen auch mit dem Slogan „Epilepsie braucht Offenheit”, was sich an die Betroffenen und die Gesellschaft gleichermaßen richtet. Das könnte entlastend wirken.

Würdest du sagen, es gibt immer noch eine Stigmatisierung von Epileptikern?

Ja, ich denke das gibt es noch. Früher galt Epilepsie ja als eine psychiatrische Erkrankung, Menschen mit Anfällen hatten also im Verständnis der Leute ein seelisches, psychiatrisches Problem. Dahin wollen wir natürlich nicht wieder zurück, wenn wir psychotherapeutische Behandlungsmöglichkeiten anbieten! Das ist ganz wichtig, dies deutlich zu machen. Es geht nicht darum, Menschen zu stigmatisieren, sondern wir wollen Handlungsmöglichkeiten aufzeigen. Wir wollen dort ansetzen, wo man Ressourcen finden kann, auf den individuellen Menschen zugeschnitten.

Lass uns nun konkret über das therapeutische Verfahren sprechen, was du entwickelt hast. Wie gehst du vor?

Man schaut zunächst, was hinter den Anfällen des Patienten stecken könnte. Wann treten sie auf? Überwiegend morgens, abends, in Pausen oder in Zeiten, in denen die Erregung des Gehirns beispielsweise durch Erschrecken schnell wechselt? Dies ist eine sehr bewältigungsorientierte Möglichkeit, mit den Menschen über ihre Krankheit zu sprechen. Dabei versuchen wir Einflussmöglichkeiten auf die Anfallssituation herauszuarbeiten. Bei fokalen Epilepsien, wo die Anfälle zum Teil mit einer Aura beginnen, suchen wir nach Gegenmitteln, um die Aura zu unterbrechen und den Anfall abzuwehren. Weiterhin analysieren wir dann Situationen, in denen - trotz geeignetem Gegenmittel - immer noch Anfälle auftreten. Dabei geht es dann auch um solche Themen: Was könnte der Anfall für eine Funktion im Leben eines Menschen haben? Was drückt er aus, was anders noch nicht gesagt werden kann? Ein Anfall ist ja auch eine Art, sich einen Raum zu schaffen, den man sich vielleicht sonst nicht erlaubt. Spielt er als Rückzugsmöglichkeit oder in Konfliktsituationen eine Rolle?

Ist das Ziel der Therapie die Anfallsfreiheit?

Ziel der Therapie ist die Gesundheitsförderung des einzelnen Menschen. Dabei benutze ich bewusst das Wort „Gesundheitsförderung” anstatt „Krankheitsbewältigung”, da es mir darum geht, die gesunden Anteile einer Person zu fördern, und nicht immer nur den kranken Anteil zu betrachten. Gerade heute hatte ich einen Patient, der zu mir sagte: „Krankheitsbewältigung, das krieg ich jeden Tag gratis. Doch bei der Förderung meiner Gesundheit, dafür brauche ich Hilfe.” Das heißt für mich konkret: die Stärken der Menschen erkennen, diese Stärken festigen, damit sie ihrem Alltag wieder besser gewachsen sind. Da, wo ich schwach bin, wäre Entwicklung zwar nötig, aber gerade da ist sie oft besonders schwer. Warum also mit viel Kraft versuchen über ein Hindernis zu springen, wenn es leichter ist, darum herumzugehen?

Haben Deine Patienten denn durch die Therapie konkret weniger Anfälle?

Wir haben in einer internen Studie herausgefunden, dass ein Großteil der geeigneten Patienten weniger Anfälle durch die Therapie hat, und ein kleiner Teil sogar anfallsfrei geworden ist. Die Verminderung der Anfallsfrequenz ist jedoch nicht das vordergründige Ziel der Therapie. Es geht uns primär darum, dass Patienten, denen medizinisch nicht ausreichend geholfen werden kann, mit ihrer Epilepsie wieder ins Leben zurückfinden, nach dem Motto des Internationalen Büros gegen Epilepsie: raus aus dem Schatten, rein ins Licht! Das ist das Hauptziel. Häufig ist eine solche Entwicklung auch mit einem Effekt auf die Anfallsfrequenz verbunden, weil die behindernden Aspekte der Krankheit an Bedeutung verlieren. Die schon beschriebenen konkreten Maßnahmen, der verbesserte Umgang mit anfallsfördernden Faktoren oder die Auraunterbrechung, haben eine Erweiterung der Handlungsfähigkeit im Umgang mit der Krankheit zum Ziel.

Gibt es also Patienten, die den Zustand der Aura unterbrechen können?

Die Aura ist ein Zustand, der bei jedem Menschen unterschiedlich erlebt wird. Ich hatte beispielsweise neulich einen Jungen, der in der Aura immer einen Elch gesehen hat, also eine visuelle Wahrnehmung als ein epileptisches Phänomen hatte. Dies verunsicherte den Jungen so, dass er zunächst niemandem davon erzählte. Diesem Jungen habe ich empfohlen, den Elch wegzujagen! Wenn das nicht funktioniert, dann sollte er versuchen, mit dem Bild oder dem Gedanken an seinen Teddybär, das Bild von dem Elch zu verdrängen. Durch dieses Umlenken der Gedanken soll eine Gegenregulierung im Gehirn vollzogen werden. Im Prinzip geht es dabei um Konzentration, und zwar um Konzentration auf etwas sehr Stabiles, sehr Einfaches. Das kann bedeuten, wenn die eine Hand beispielsweise durch die Aura kribbelt, mit der anderen Hand einfach die kribbelnde Hand zu reiben und sich dabei auf sehr einfache Formeln zu konzentrieren, wie zum Beispiel das klare Wort „Stopp”.

Nehmen Patienten, die zu dir kommen, auch medikamentöse Therapie an?

Das ist ein wichtiger Punkt: Medikamentöse Therapie und das verhaltenstherapeutische Verfahren schließen sich überhaupt nicht aus, im Gegenteil. Es gibt inzwischen verbesserte Medikamente, die auch vom Nebenwirkungsspektrum keine wesentliche Einschränkung für einen Menschen mit sich bringen und eine Psychotherapie nicht behindern. Bei unserer Studie, in der wir psychotherapeutisch behandelte Epilepsiepatienten befragt haben, kam heraus, dass alle vor und nach der Psychotherapie weiterhin ihre Medikamente nehmen. Zum Teil konnten sie die sogar besser akzeptieren, weil sie die Wirkungsweise besser verstanden haben.

Stößt dein psychosomatisch orientierter Ansatz bei den Neurologen auf Widerstand? Du arbeitest ja als niedergelassener Psychotherapeut und kooperierst mit dem Epilepsiezentrum Berlin-Brandenburg.

Also, ich sehe das so: Wenn wir die psychosomatischen Aspekte der Epilepsie vollkommen übersehen, dann verschenken wir wichtige Handlungsmöglichkeiten. Ich mache nicht selten die Erfahrung, dass Epilepsiepatienten, die rein neurologisch behandelt wurden, sich alleingelassen vorkommen. Deshalb gehört das nicht nur für mich, sondern für das gesamte Epilepsiezentrum Bethel mit seinen Standorten in Bielefeld, Berlin und Bernau einfach zusammen. Wenn man nur operativ, nur medikamentös oder auch nur psychotherapeutisch rangeht, dann betrachtet man einfach nicht den Menschen in seinen gesamten Lebenszusammenhängen. Ich habe den Eindruck gewonnen, dass die Menschen, denen die medikamentöse Behandlung alleine einfach nicht hilft, in einer rein neurologisch orientierten Behandlung sogar traumatisiert werden können.

Somit empfiehlst du allen Epilepsiekranken, eine begleitende Psychotherapie zu machen?

Nein, sicherlich nicht! Wie bei allen Therapieverfahren gibt es Menschen, die mehr, weniger oder sogar gar nicht profitieren können. Aber denjenigen, die sich bereits mit der Frage beschäftigen, warum ein epileptischer Anfall auftritt, oder dazu bereits Hypothesen entwickelt haben, würde ich das auf jeden Fall empfehlen. Die kann man dann da abholen, wo sie ohnehin schon stehen, wie man als Psychotherapeut so schön sagt. Es gibt aber nicht wenige Neurologen, die versuchen, ihren Patienten solche Gedanken auszureden. Ich halte das für einen Fehler, weil einerseits damit Behandlungsmöglichkeiten verbaut werden und andererseits eine Abhängigkeit von der Wirksamkeit des Medikamentes oder von dem Neurologen entstehen kann. Das fördert Angst und damit die Bedeutung der Krankheit im Leben. Und gerade dagegen wollen wir ja etwas tun. Ein anderer Grund aber wäre, dass wir auch gar nicht das Angebot hätten, weil dieser Behandlungsansatz vor allem unter Psychotherapeuten noch relativ unbekannt ist. Selbst Prof. Klaus Grawe war überrascht, als ich ihm diesen Ansatz einmal in Bern vorstellen durfte. Psychotherapeuten sollten beginnen, sich mehr auch für solche Patienten zu interessieren, denen man psychotherapeutisch ja durchaus helfen kann. Das ist ja auch die Botschaft in dem PiD-Heft „Psychotherapie und Psychiatrie” (Heft 3/2005).

Wo kann man sich denn informieren zu der Anfallsselbstkontrolle?

Es gibt ein Buch von mir und Christiane Schmid-Schönbein, die mich vor 15 Jahren für diesen Ansatz begeistert hat. Es ist 1999 im Pabst-Verlag erschienen und wurde gerade zum zweiten Mal nachgedruckt. Ursprünglich war es ein Forschungsbericht, mit dem wir aber versucht haben, sehr anschaulich mit vielen Fallbeispielen die dahinterstehende Theorie und auch unsere therapeutische Herangehensweise zu erläutern. Außerdem bieten zwei Kollegen und ich jährlich Wochenendworkshops für Patienten in Bielefeld und München an. Bei Interesse kann man sich an die Deutsche Epilepsievereinigung oder an die Epilepsieberatung München wenden.

Herzlichen Dank für das Gespräch.

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