PiD - Psychotherapie im Dialog 2007; 8(2): 159-161
DOI: 10.1055/s-2007-970871
Aus der Praxis
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Der psychotherapeutische Hausarzt

Michael  Broda
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Publication Date:
01 June 2007 (online)

In der Zeit knapper werdender Ressourcen und steigender Effizienzüberlegungen gilt das Augenmerk auch in der ambulanten Psychotherapie der Verkürzung, der Entrümpelung und der Steigerung der Effekte. Nun hat der Einzug der Verhaltenstherapie in die ambulante Versorgung seinerzeit auch immer die Aussage beinhaltet, Therapiedauern zu verkürzen und Effektivitäten zu erhöhen. Dies hat sicherlich vielfach zu Verbesserungen in der Versorgung geführt - auch wenn jedem erfahrenen Kollegen in der Niederlassung klar ist, dass „kürzer” nicht automatisch „besser” sein muss. Die Verhaltenstherapie ist aber auch aufgrund der wissenschaftstheoretischen Wurzeln nicht unanfällig für solche Machbarkeitsideen, zahlreiche manualisierte Therapievorschläge, „evidence-based medicine” und diverse Leitlinien weisen die Richtung, in die sich Psychotherapie sowohl im ambulanten als auch stationären Bereich bei uns entwickeln wird: kürzer und dabei effektstärker. Die Kunde der ganz kurzen Therapien kommt seit einiger Zeit aus den USA - dort werden psychotherapeutische Interventionen mit weniger als zehn Sitzungen konzipiert.

Und weil ich mich persönlich eher zu den „Kurztherapeuten” zähle, bin ich ziemlich unsicher, ob ich in so einer „Großwetterlage” über Patienten berichten darf, die in dieses Kurztherapieschema so überhaupt nicht passen. Ich erlebe in unserer Praxis eine nicht kleine Gruppe von Patienten, die jahrelang, eher niederfrequent oder gar bei Bedarf, Kurzgespräche vereinbaren (1/2 Sitzung) und damit offensichtlich gut stabilisiert ihr Leben meistern. Solche Patienten, die es nach Psychotherapierichtlinien eigentlich gar nicht geben darf, sollen im Mittelpunkt der jetzigen Betrachtungen stehen.

Starke Chronifizierung. Eine gemeinsame Dimension scheint bei vielen PatientInnen, die in die Kategorie fallen, die Art und Weise zu sein, in der ihre psychische Problematik die Alltagsgestaltung beherrscht. Häufig bei chronifizierten Schmerzpatienten beobachtbar, zeichnen sich diese PatientInnen dadurch aus, dass eine Besserung oder Heilung nicht erreichbar erscheint, ohne eine psychotherapeutische Unterstützung aber eine deutliche Verschlechterung prognostiziert werden kann. Bei solchen PatientInnen kann ich zwar immer wieder über Entspannung, Ruhebilder, Anregen maßvoller körperlicher Aktivität usw. Themen ansprechen, weiß jedoch dabei selbst auch schon, dass eine Heilung oder Beendigung der Therapiekontakte kaum möglich sein wird.

Faktoren der sozialen Umwelt. Das Einzugsgebiet unserer Praxis weist mit die höchste Arbeitslosenquote in Deutschland auf. Durch die häufig aussichtslose Situation, in der sich Menschen ab 45 Jahren hier befinden, erleben wir einen starken Zulauf von PatientInnen mit depressiven Störungen, die ihre kleinen Häuschen nicht mehr abbezahlen können, ihr Auto abmelden müssen oder sich über die Maßen verschuldet haben. Auch dies sind Langzeitpatienten, die nicht stringent auf das Erreichen eines therapeutischen Ziels hin arbeiten können, sondern denen geholfen werden muss, auch noch ein Fünkchen positiver Emotionen zuzulassen. Ebenso gibt es Patienten, die durch chronische Erkrankung, Behinderung oder Pflegebedürftigkeit eines Familienmitglieds chronisch überfordert sind, jedoch keine Chance haben, an dieser Situation etwas zu verändern.

Chronisch körperliche Erkrankung. Zunehmend entdecken Hausärzte, dass wir in der Versorgung chronisch körperlich Kranker einen wichtigen Beitrag leisten können. TumorpatientInnen, Patienten mit Morbus Crohn oder Diabetes füllen stärker als früher unsere Praxis. Meist geht es bei diesen PatientInnen um eine Begleitung, um ein Aushalten negativer Emotionen, um eine Hilfe, sich auch mit angstbesetzten Zukunftsszenarien zu befassen. Diese PatientInnen gehen in ihrem Gesprächsbedarf in den meisten Hausarztpraxen leer aus, die Familien sind überfordert, die sozialen Rückhaltsysteme nach Jahren der Erkrankung nicht mehr existent. Auch hier können unsere Gespräche einen wichtigen supportiven Beitrag leisten - auch wenn die Psychotherapierichtlinien hierfür eigentlich keinen Raum geben.

Chronisch psychiatrische Erkrankung. Etliche Patienten mit den Erstdiagnosen einer schizophrenen Grunderkrankung, wahnhafter Störungen oder drogeninduzierter Psychosen benötigen eine weitere stützende Begleitung zusätzlich zur medikamentös-psychiatrischen Versorgung. Hier betreue ich Patienten, die z. T. seit Jahren zu ein oder zwei kurzen Terminen im Quartal kommen, in guter Kooperation mit den niedergelassenen Psychiatern stabil und beruflich eingebunden mit ihrer Erkrankung sehr gut klarkommen.

Die Psychotherapierichtlinien geben einen Rahmen vor, der zur Behandlung solcher PatientInnen jedoch nicht ausreicht. Sie gehen von einem nahezu idealtypischen Therapieverlauf aus, in dem Zielsetzung über einen entsprechenden Behandlungsplan operationalisierbar ist. Begleitendes, stützendes und Halt gebendes Vorgehen ist darin nicht vorgesehen. Ich glaube, dass in vielen Richtlinienpraxen diese Patienten deswegen nicht auftauchen, weil sie über Wartezeitregelungen und die Frage nach Therapiemotivation und Zielgerichtetheit als Patienten ausscheiden. Dass sie also, weil sie für die Richtlinienpsychotherapie nicht passend sind, auch kein adäquates Behandlungsangebot erhalten können.

An solchen Patienten erkennen wir, dass wir eine Veränderung der Richtlinien brauchen, um dem (steigenden?) Bedarf dieser Gruppe gerecht zu werden. Wir müssen aber auch unsere Machbarkeitsfantasien korrigieren und begreifen, dass es Patienten gibt, die auf eine lange und wertschätzende Begleitung angewiesen sind. In der somatischen Medizin muss ein Diabetiker auch über einen langen Zeitraum hinweg versorgt werden. Ich denke, dass wir uns und unserem Berufszweig keinen Gefallen tun, wenn wir psychische Störungen grundsätzlich als in kurzen Zeitabschnitten behandelbar ansehen.

Andererseits halte ich es aber auch für wichtig, bei langen Behandlungen über die Reduktion der Behandlungsfrequenz nachzudenken. Die meisten der oben klassifizierten PatientInnen kommen mit einem Angebot aus, das über die Gesprächsziffer 23 220 EBM abgewickelt werden könnte. Dies wäre in meinen Augen auch die vernünftigste Lösung, um innerhalb der Richtlinienpsychotherapie zu einem einigermaßen befriedigenden Vorgehen zu kommen. Führt man sich jedoch die Punktwerte vor Augen, die für diese Ziffer angesetzt sind, so kommt jede/r TherapeutIn schnell zu dem Schluss, dass ein solches Angebot betriebswirtschaftlich völlig indiskutabel ist. Dabei wage ich zu behaupten, dass wir gerade bei dieser Patientengruppe dem Gesundheitssystem insgesamt viele unnötige „Overuser”-Kontakte ersparen. Diesen Patienten ist in der Regel geholfen, wenn ihnen jemand zuhört, ihre Sorgen ernst nimmt, ihnen Mut macht und auf kleine positive Veränderungsaspekte fokussieren hilft.

Ist dies aber dann noch Psychotherapie? Dürfen wir Patienten einfach nur stützend begleiten, auch wenn eine Zielformulierung über ein Vermeiden von Verschlechterungen nicht hinauskommt? Ich denke ja - mehr noch, ich denke, dass es unsere Pflicht ist, Patienten zu helfen, ein Minimum an Aufmerksamkeit und Wertschätzung zu erfahren, wenn sie sich auf dem Abstellgleis der Versorgung wiederfinden oder noch im Überweisungskarussell zwischen verschiedenen Praxen kreisen.

Das in Therapeutenkreisen so beliebte „Überprüfen der Therapiemotivation” sondert solche Patienten aus. Wie sollte jemand, der in Bezug auf die eigene psychische und soziale Situation hoffnungslos ist, für sich ein positives Therapieziel formulieren? Warum sollte ein solcher Mensch ein halbes bis ein dreiviertel Jahr auf einen Behandlungsplatz warten? Und wie viele solcher Patienten kommen zu uns, nachdem sie von Kollegen zu hören bekamen, dass sie für Psychotherapie nicht geeignet seien? Nach meiner Überzeugung ist es notwendig, neben unserer Identität als „Facharztgruppe” eine zweite Identität als „Hausarzt” entstehen zu lassen, - Ansprechpartner für Probleme und Befindlichkeiten, die nicht gleich sämtliche Techniken der großen Psychotherapie für eine Veränderung brauchen. Manche Patienten scheinen einen solchen psychotherapeutischen Hausarzt dringend zu brauchen und von einem solchen Angebot sehr zu profitieren.

Herr A., 54 Jahre, gelernter Dekorateur, ist seit 15 Jahren zunächst arbeitsunfähig wegen eines geplatzten Aneurysmas im Gehirn, entwickelt ein chronifiziertes Schmerzsyndrom mit zunehmendem sozialen Rückzug und Verlust des Selbstwertgefühls. Nach der OP eines neu entdeckten Nierenkarzinoms wird er vor sechs Jahren EU-berentet. Als er vor acht Jahren in unsere Praxis überwiesen wird, ist er von Schmerzen fast ständig geplagt, betreibt „Doctor-shopping” sitzt ansonsten zu Hause und grübelt, seine Ehe ist vor dem Auseinandergehen und seine Grundstimmung ist depressiv verzweifelt. In einer 80 Sitzungen umfassenden niederfrequenten Langzeittherapie (ca. eine Sitzung im Monat) kann er seine Schmerzsymptomatik fast gänzlich auflösen, fasst wieder Lebensmut und Hoffnung und arbeitet neben seiner Rente als Schildermaler für eine Baumarktkette. Ärztliche Versorgung nimmt er nur noch in Form regelmäßiger Tumoruntersuchungen wahr. Die Beziehung zu seiner Frau ist zwar nicht sehr eng, jedoch haben sich beide mit dem Zustand arrangiert und können damit leben. Die Behandlung wird weitergeführt mit Sitzungen in ca. achtwöchigem Abstand nach Ziffer 23 220 zur Stabilisierung, zum Besprechen neuer Krisen, zum Erinnern an Inhalte der Therapie und zum Verbalisieren von emotionalen Zuständen. Der Patient benötigt die Sicherheit, sich jederzeit wieder an unsere Praxis wenden zu können, er empfindet dieses Wissen, ab und zu wieder berichten zu müssen, wie er Dinge im Alltag umsetzt, als absolut hilfreich.

Frau B., 57 Jahre, berentete Lehrerin mit wahnhafter Störung, Therapiebeginn im Jahre 2000, Behandlungsfrequenz ca. zweimal pro Quartal, benötigt diese halbstündigen Kontakte zur Realitätsprüfung, Alltagsstrukturierung und Planung von ablenkenden Aktivitäten. Es besteht eine enge Kooperation mit dem behandelnden Psychiater, seit dem psychotherapeutischem Behandlungsbeginn mit 45 Sitzungen einer Langzeittherapie hat kein stationärer Aufenthalt mehr stattgefunden. Inzwischen ist die Patientin gut stabilisiert, aber weiterhin auf solche kurzen „Rückversicherungskontakte” angewiesen.

Frau C., 48 Jahre, ohne abgeschlossene Berufsausbildung, ALG-2 Empfängerin, seit 18 Monaten Zeitrente. Seit 2001 fanden gestreckt 45 Sitzungen einer Langzeittherapie statt, inzwischen niederfrequente Versorgung mit ein bis zwei Kurzkontakten pro Quartal. Hauptinhalte der Gespräche sind Alltagsstruktur, Umgang mit Kränkung und Ablehnungen sowie Strategien zur Emotionsregulation. Wichtige Wirkfaktoren sind Ansprechbarkeit und Verfügbarkeit, falls eine krisenhafte Entwicklung sich abzeichnet.

Frau D., 40 Jahre, mit starkem Kontrollzwang, kommt 2000 nach mehrmonatigem Psychiatrieaufenthalt in unsere Praxis. Nach einer erfolgreichen Therapie mit 45 Sitzungen mit In-vivo-Expositionen, ist die Patientin danach mit ein bis zwei Sitzungen im Quartal sehr gut versorgt. Manchmal bestehen verstärkte Impulse, wieder mehr zu kontrollieren (abhängig von Außenbelastungen). Durch die Vereinbarung, sich bei Bedarf zu melden und durch Rückversicherungen („Ist es o. k., wenn ich dies so mache?”) ist die Patientin meist zu eigener Sicherheit zurückzuführen.

All diese Patienten brauchen diese Form der Versorgung, um nicht wieder in neue krisenhafte Zustände zu geraten. In der traditionellen Gesundheitsversorgung mäandern sie zwischen den unterschiedlichen Arztgruppen, die sich sicherlich auch um solche Patienten zu kümmern versuchen, ihnen aber nicht das zur Verfügung stellen können, was diese Patienten brauchen: etwas Zeit und Zuspruch. Unsere Berufsgruppe kann ihnen Zeit und Beziehung anbieten. Ich denke, dass diese Patienten davon mehr profitieren als von Therapiezielen und Behandlungsplänen oder als von Medikation und Diagnostik. Sie brauchen den psychotherapeutischen „Hausarzt”, der sie schon lange kennt, zu ihnen eine gute Beziehung hat und mit ihnen Krankheit oder soziale Realitäten auszuhalten bereit und in der Lage ist.

Korrespondenzadresse:

Dr. Michael Broda, Dipl.-Psych.

Praxisgemeinschaft Psychotherapie

Pirmasenser Str. 23 a

66994 Dahn

Email: dr.michael.broda@t-online.de

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