Rehabilitation (Stuttg) 2007; 46(1): 1-2
DOI: 10.1055/s-2007-958530
Editorial

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Zugang zur Rehabilitation. Entwicklungen in der sozialmedizinischen Begutachtung

Access to Rehabilitation. Current Developments in Sociomedical AssessmentH. Vogel 1 , W. H. Jäckel 2
  • 1Arbeitsbereich Rehabilitationswissenschaften, Institut für Psychotherapie und Medizinische Psychologie der Universität Würzburg
  • 2Abteilung Qualitätsmanagement und Sozialmedizin, Universitätsklinikum Freiburg
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Publication Date:
22 February 2007 (online)

In den letzten beiden Dekaden sind - initiiert durch die Rehabilitationsträger - erhebliche Anstrengungen zur Weiterentwicklung und Professionalisierung des Systems der medizinischen Rehabilitation unternommen worden. Dazu gehören insbesondere die Reha-Kommission, die Qualitätssicherungsprogramme für stationäre und ambulante Reha-Leistungen, der Aufbau der Verbundforschung für die Rehabilitationswissenschaften, die systematische Entwicklung von Leitlinien für die Rehabilitation, die medizinisch-berufliche Orientierung und die Intensivierung der Patientenschulung sowie der Reha-Nachsorge. Ohne Zweifel haben diese Anstrengungen einerseits zu einer stärkeren Professionalisierung innerhalb des Rehabilitationssystems geführt und andererseits die Akzeptanz der Rehabilitation insgesamt deutlich verbessert.

Trotz dieser Erfolge lassen sich Bereiche identifizieren, in denen noch ein deutlicher Entwicklungsbedarf besteht. Hierzu gehört nach unserer Meinung insbesondere der Zugang zur Rehabilitation. Die Erfolge der Rehabilitation sind zwar ganz wesentlich von den Interventionen während und nach der Rehabilitation abhängig. Sie können aber nur optimiert werden, wenn die geeigneten Versicherten (mit Rehabilitationsbedarf, Rehabilitationsfähigkeit und positiver Rehabilitationsprognose) zum richtigen Zeitpunkt das Rehabilitationssystem erreichen. Über diesen Aspekt des Versorgungssystems der Rehabilitation wissen wir bisher vergleichsweise wenig, es gibt aber manche Hinweise auf Zugangsprobleme. Der Sachverständigenrat für die konzertierte Aktion im Gesundheitswesen hat dieses Pro-blemfeld benannt, als er in seinen Gutachten 2000/2001 und 2003 von „Über-, Unter- und Fehlversorgung” im Bereich der chronischen Krankheiten sprach.

Der Zugang zur Rehabilitation ist nicht nur vom Verhalten des Versicherten und der Anregung durch den niedergelassenen Arzt abhängig. Von zentraler Bedeutung für die Steuerung des Zugangs und des Rehabilitationsprozesses ist die sozialmedizinische Begutachtung. Die Wissensbasis für diesen Bereich erscheint im Vergleich zu seiner wichtigen Aufgabe unsicher, nur wenige Forschungsprojekte haben dieses Thema bisher fokussiert. Die offenen Fragen sind vielfältig: Wie lassen sich unter Berücksichtigung des Teilhabekonzepts des SGB IX die Reha-Bedürftigkeit (unter Verwendung der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit, ICF) und die Reha-Prognose operationalisieren? Welche Qualität hat die sozialmedizinische Begutachtung, in welchem Ausmaß stimmen die Bewertungen verschiedener Gutachter bei den gleichen Versicherten überein (Interrater-Reliabilität)? Sind die derzeit bei Reha-Anträgen erhobenen Daten ausreichend, um v. a. eine „Beurteilung nach Aktenlage” darauf stützen zu können? Können wissenschaftlich fundierte Algorithmen den Begutachtungsprozess erleichtern und verbessern? Ist eine Quali-tätssicherung der Begutachtung erforderlich und wie könnte diese aussehen? In welchen Bereichen besteht dringender Forschungsbedarf (auf Forschungsergebnisse aus anderen Ländern kann in aller Regel wegen der unterschiedlichen Organisation des Rehabilitationssystems nicht zurückgegriffen werden)?

Einige dieser Fragen werden in den folgenden Beiträgen aufgegriffen. Dabei kann es nicht darum gehen, fertige Lösungen zu präsentieren. Vielmehr soll der momentane Forschungsstand in einigen der mit diesen Themen beschäftigten Institutionen und Forschungseinrichtungen vorgestellt werden. Die Beiträge sind überwiegend im Rahmen von Entwicklungs- und/oder Forschungsprojekten des Rehabilitationswissenschaftlichen Förderschwerpunktes oder assoziierter Projekte entstanden. Trotz dieser Nähe zur Rehabilitation der Rentenversicherung dürften die Grundaussagen und Überlegungen jedoch auch für andere Bereiche des Rehabilitationszugangs bzw. der sozialmedizinischen Begutachtung zutreffend sein.

Die ersten beiden Beiträge haben Grundlagencharakter: Heiner Raspe stellt zunächst ein heuristisches Modell für die Bestimmung und Analyse von Rehabilitationsbedarf in Abhängigkeit der wesentlichen Bestimmungsteile dar. Reha-Bedarf konstituiert sich bei bestehenden gesundheitsbedingten Teilhabestörungen, wenn die dementsprechenden Rehabilitationsziele durch vorhandene rehabilitative Interventionen erreichbar scheinen. Weitere Rahmenbedingungen dieses Modells sind die sozialrechtlichen Vorgaben, die Evidenzen zu Reha-Ergebnissen und die vorhandenen Rehabilitationsangebote. Die Umsetzung dieses allgemeinen Modells in die konkrete Bedarfsfeststellung wird am Beispiel einzelner Reha-Indikationen erläutert. Es werden aber insbesondere auch die aktuellen Grenzen und Probleme einer derartigen, theoretisch fundierten Bedarfsfeststellung aufgezeigt, die durch den gegenwärtigen (begrenzten) Stand der Forschung, den Mangel an angemessenen Assessmentinstrumenten und die insgesamt noch unzureichende Teilhabeorientierung der üblichen Begutachtungspraxis bedingt sind.

Der Beitrag von Lothar Schmidt-Atzert und Stefan Krumm beschäftigt sich näher mit der sozialmedizinischen Begutachtung. Vor dem Hintergrund der Forschungstradition zur diagnostischen Entscheidungsfindung werden Grundlagen, Strukturelemente und Modelle der Entscheidungsfindung herausgearbeitet. Die Autoren zeigen unter Bezugnahme auf empirische Forschung zu diesem Feld kritische Elemente und Problemfelder der Begutachtung auf und diskutieren Optimierungspotentiale.

Der überwiegende Teil des Schwerpunktheftes umfasst neue Ansätze zur Begutachtung von Rehabilitationsbedarf. Zunächst stellen Nikolaus Gerdes, Ernst-Ludwig Karl und Wilfried H. Jäckel die Ergebnisse einer Feldstudie dar, in der computergestützte Entscheidungshilfen zur Bewertung von Reha-Anträgen („CEBRA”) im Vergleich zur üblichen sozialmedizinischen Begutachtung erprobt wurden. Dabei zeigt sich, dass die eingesetzten Erhebungsinstrumente und Algorithmen in der Lage sind, die in zentralen Kriterien der Reha-Bedürftigkeit schwer belasteten bzw. erwerbsgefährdeten Antragsteller klar von den weniger belasteten zu trennen. Allerdings gab es zwischen den Bewertungen des CEBRA-Programms und den faktisch getroffenen Entscheidungen der sozialmedizinischen Begutachtung keine überzufälligen Übereinstimmungen. Die heterogenen Ergebnisse werden anschließend mit Blick auf die unterschiedlichen Informationsgrundlagen bei beiden Entscheidungswegen dieser Studie interpretiert, und es werden Nutzungsmöglichkeiten im sozialmedizinischen Alltag diskutiert.

Bettina Hesse, Erika Gebauer und Gereon Heuft befassen sich mit der Begutachtung bei Rentenanträgen wegen psychiatrischer Erkrankungen. In einem sehr intensiven, mehrstufigen Expertenkonsensprozess haben sie eine ausführliche Anleitung zur Beurteilung von Rehabilitationsprognose und Reha-Bedürftigkeit („IREPRO”) erstellt. Für den Alltag der Begutachtung bedeutet diese eine wesentliche Standardisierung und Objektivierung, die wiederum eine wichtige Voraussetzung für die Verbesserung von Reliabilität und Validität ist. Im Beitrag von Axel Kobelt, Eberhard Grosch, Armin Wasmus, Inge Ehlebracht-König, Monika Schwarze, Marita Krähling und Christoph Gutenbrunner geht es um ein weitgehend vernachlässigtes Thema in der Reha-Wissenschaft: die chronische Erschöpfung. Ausgehend von der Erfahrung, dass Erschöpfung häufig den Anlass für einen Reha-Antrag darstellt, prüfen die Autoren in einer Feldstudie, wie weit sich dieses Syndrom durch einen übersichtlichen Screeningfragebogen erfassen lässt und ob sich Zusammenhänge mit den Ergebnissen der Reha-Begutachtung finden. Vor diesem Hintergrund werden Möglichkeiten zum Einsatz von Screeningbögen in der Reha-Begutachtung diskutiert.

Der Beitrag von Karin Meng, Anton Holderied und Heiner Vogel befasst sich mit der sozialmedizinischen Prüfung von Reha-Anträgen bei Antragstellern mit orthopädischen Erkrankungen. In einem zweistufigen Konsensprozess mit Sozialmedizinern wurde ein Entscheidungsalgorithmus konstruiert und in einer Feldstudie im Vergleich zur üblichen Begutachtungspraxis validiert. Die festgestellten mittleren Übereinstimmungen mit der üblichen Begutachtung weisen auf Verbesserungspotentiale im Algorithmus und auch auf Nutzungsmöglichkeiten zur Optimierung des Begutachtungsprozesses hin. Oskar Mittag und Heiner Raspe stellen im folgenden Beitrag die Entwicklung eines Selbstbeurteilungsfragebogens zur Unterstützung der Begutachtung von Reha-Bedarf vor, der vor dem Hintergrund des Lübecker Algorithmus konstruiert wurde. Ausführlich werden Probleme in der praktischen Umsetzung, aber auch bei der Berücksichtigung sozialrechtlicher Aspekte sowie Lösungsmöglichkeiten für die aufgezeigten Probleme erörtert. Im abschließenden Beitrag berichten Reinhard Legner und Wolfgang Cibis von den Arbeiten der Projektgruppe Qualitätssicherung in der sozialmedizinischen Begutachtung und stellen die Perspektiven für die weitere Qualifizierung der sozialmedizinischen Begutachtung der Deutschen Rentenversicherung vor.

Korrespondenzadresse

Dr. Heiner Vogel

AB Rehabilitationswissenschaften

Institut für Psychotherapie und Med. Psychologie der Universität

Klinikstraße 3

97070 Würzburg

Email: h.vogel@uni-wuerzburg.de

Prof. Wilfried H. Jäckel

Abt. Qualitätsmanagement und Sozialmedizin·Universitätsklinikum Freiburg

Breisacher Straße 62

Haus IV

79106 Freiburg

Email: wilfried.jaeckel@uniklinik-freiburg.de