PiD - Psychotherapie im Dialog 2006; 7(4): 343-344
DOI: 10.1055/s-2006-951852
Editorial
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Psychotrauma

Steffen  Fliegel, Wolfgang  Senf
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Publication Date:
29 November 2006 (online)

Das Thema „Psychotrauma” wird in der Fachwelt inzwischen breit rezipiert. Das war nicht immer so.

Noch vor sieben Jahren, als das erste PiD-Heft zum Thema „Posttraumatische Belastungsstörung” erschien, schrieben wir im Vorwort, dass die deutschsprachigen Publikationen zur PTBS eher selten seien. Wenn Sie die Literaturverzeichnisse der Beiträge in dem vorliegenden Heft studieren, werden Sie feststellen, dass sich dies grundlegend geändert hat. Und es gibt inzwischen eine große Bereitschaft in der Psychotherapie, sich mit dem Thema auseinander zu setzen.

Die Fülle themenbezogener Fort- und Weiterbildungsangebote ist inzwischen sogar fast nicht mehr zu überschauen. Es werden Unterformen der Traumatisierung wie Pressing[1], Mobbing und Bossing[2] eingeführt. Es gründen sich Trauma-Stationen in Kliniken, Trauma-Institute und Trauma-Fachverbände. Speziell auf die Folgen der Traumatisierung zugeschnittene Behandlungskonzepte, als Akuthilfe und als Behandlung der PTBS, werden entwickelt. Die Notfallpsychologie gewinnt neben der Notfallseelsorge immer mehr an Bedeutung.

Diese insgesamt als positiv zu bewertende Entwicklung macht es möglich, dass Menschen, die schwer traumatisiert sind, sei es durch Naturkatastrophen, Unfälle, kriminelle Handlungen, plötzliche Verluste, einmalige oder fortgesetzte Schädigung, von der modernen Psychotherapie gute und effektive Hilfe bei der Bewältigung der seelischen Traumafolgen erwarten können. Dabei kommen der Stabilisierung, der Konfrontation mit dem Trauma und der Integration des Traumas und seiner Folgen in die Persönlichkeit und in die Lebensgeschichte der Betroffenen eine besondere Bedeutung zu. Darüber besteht aufseiten der Expertinnen und Experten weitestgehend Einigkeit.

Weiterhin erfreulich ist es, dass - soviel ließ sich schon bei der Vorbereitung dieses PiD-Heftes feststellen - kein Therapieverfahren den alleinigen Anspruch auf die Behandlung formuliert, dass also Methodenintegration und Methodenvielfalt angezeigt sind.

Betrachtet man die möglichen Auswirkungen einer Traumatisierung, ist dies nicht verwunderlich: Traumafolgen betreffen den emotionalen und kognitiven Bereich. Das Trauma hat Auswirkungen auf die persönliche und berufliche Lebensführung, das Verhalten und die Alltagsgestaltung. Komorbiditäten finden sich auf körperlicher, psychosomatischer und psychischer Ebene.

Die Frage stellt sich, warum es Menschen gibt, die nach einer nachweislichen Traumatisierung eine posttraumatische Belastungsstörung ausbilden, aber ähnlich traumatisierte Menschen diese Störung nicht entwickeln. Das Phänomen der Resilienz bietet sich hier als ein Erklärungsmodell an. Und ebendieses lässt sich auch bei anderen psychischen Problemen feststellen, wie den Phobien und Panikstörungen, Suchterkrankungen und anderen.

Liebe Leserin, lieber Leser, bei der Sichtung der Themen rund um Trauma, Traumatisierung und Traumabehandlung haben sich bei uns auch kritische Gedanken eingestellt. Neben all den positiven wissenschaftlichen Entwicklungen zur Diagnostik und Behandlung der Posttraumatischen Belastungsstörung bewegen uns viele Fragen, die wir - vor allem mit den beiden Interviews - zu beantworten hoffen. Um sie noch einmal zu formulieren:

Wie viel Zeit benötigen Menschen in der Regel, um die extreme Stressreaktion auf die außergewöhnliche Belastung und die nachfolgenden psychischen und psychosomatischen Symptome in einem Selbstheilungsprozess zu bewältigen? Mit anderen Worten: Wann gelangt die traumatisierte Person nach Schock- und Einwirkungsphase in die Erholungsphase? Versucht der betroffene Mensch nicht, ein Gleichgewicht zwischen den Persönlichkeiten vor und nach dem Trauma herzustellen und will er dabei möglicherweise nicht „gestört” werden? Ein altes Sprichwort sagt: „Die Zeit heilt alle Wunden.” Aber ist es nicht entscheidend, was in dieser Zeit passiert? Woran ist zu erkennen, ob die Traumatisierung mit den eigenen Ressourcen und Selbstheilungskräften und dem eigenen sozialen Netzwerk zu bewältigen ist oder ob psychotherapeutische Hilfe, möglicherweise „Traumatherapie”, notwendig wird? Wird mit dem Begriff der PTB-„Störung” nicht eine psychiatrische Etikettierung vorgenommen, obwohl es sich in den meisten Fällen eher um nachvollziehbare Anpassungsreaktionen auf extreme Belastungen handelt, deren Sinnhaftigkeit nicht durch ein Zuviel an Hilfe infrage gestellt werden sollte? Gibt es nicht aufgrund der Herausgehobenheit des Trauma-Themas in der Fachwelt wie auch in den Medien mittlerweile einen inflationären Gebrauch der Diagnose PTBS?

Und weitere Fragen zur Behandlung drängen sich auf:

Nach dem Terroranschlag auf das World Trade Center in New York waren mehr als 9000 psychologische Helfer im Einsatz (Debriefing). Damit kamen auf jedes Opfer mehr als drei Helferinnen und Helfer. Weisen Studien nicht auch darauf hin, dass Menschen, die routinemäßig und systematisch nach Katastrophen psychologische Hilfe erhielten, das Trauma schlechter bewältigten als diejenigen, bei denen keine akute psychische Unterstützung erfolgte? Reichen nicht die in einer seriösen Psychotherapieausbildung erlernten Verfahren aus, die Folgen schwerer Traumatisierung zu behandeln? Befähigt dies nicht zur Genüge dazu, eine therapeutische Beziehung mit schwer geschädigten Menschen aufzubauen und auszuhalten, moralische Abstinenz aufzugeben, einzufühlen und dennoch zu strukturieren, keine Angst vor Trauer zu haben, Lebensmut und Lebensfreude auch im Angesicht dessen zu behalten, was Menschen anderen Menschen antun können? Dies erfordert eine therapeutische Haltung, aber bedarf dies auch einer Spezialisierung?

Unbestritten ist, dass Menschen, die nach Gewalteinwirkung durch Menschen oder durch die Natur psychische Krankheiten ausgebildet haben, psychotherapeutische Hilfe benötigen. Dies gilt vor allem für die Schwächeren in unserer Gesellschaft, die, die bei uns nach systematischer Verfolgung und Folter Zuflucht suchen. Unser besonderer Dank gilt allen, die sich den politisch Verfolgten annehmen und damit auch die Missstände in unserer „heilen” Gesellschaft aufzeigen.

Hier drängt sich der Übergang zum Thema Prävention im Zusammenhang mit Traumatisierungen geradezu auf. Wenn mehr als 1 000 000 Kinder in Deutschland Opfer von Misshandlungen sind, gibt es einen hohen präventiven Handlungsbedarf. Denn die Ursachen und Folgeschäden dieser Misshandlungen sind bekannt. Viele Täter sind auch Opfer. Das breite Interesse am Thema Psychotraumatologie kann hier für vorbeugende Maßnahmen von großem Nutzen sein.

Wir haben herausragende Autorinnen und Autoren gebeten, Ihnen Aktuelles zur Symptomatologie und Diagnostik, zu unterschiedlichen Behandlungsverfahren und Versorgungskonzepten vorzustellen. Eingebettet sind diese Beiträge in zwei Interviews, die mit dem Sozialpsychiater Klaus Dörner, einem Traumakonzept-Kritiker, und Luise Reddemann, einer kritischen Wegbereiterin der Psychotraumatabehandlung, geführt wurden.

Wir wünschen Ihnen viel Freude und fachliche Bereicherung mit Ihrer neuen PiD, und vielleicht eine spannende Diskussion mit uns und anderen Leserinnen und Lesern durch Ihre Briefe an die Redaktion.

Das PiD-Team Who is who (von li.): Anne Repnow (Bereichsleiterin, Thieme), Wolfgang Senf, Essen (Herausgeber PiD), Andrea Dinger-Broda, Dahn (Redaktion PiD), Michael Broda (Herausgeber PiD), Korinna Engeli (Planung PiD, Thieme), Jochen Schweitzer, Heidelberg (Herausgeber PiD), Henning Schauenburg (Herausgeber PiD), Bettina Wittmund (Herausgeberin PiD), Steffen Fliegel (Herausgeber PiD), Elke Rettig (Herstellung PiD, Thieme), Gabi Hasenmaile (Projektmanagement PiD, Thieme).

1 Personenunabhängige Unterdrucksetzung durch Institutionen oder anonymisierte Maßnahmen, z. B. Abmahnungen.

2 Druck durch hierarchisch Vorgesetzte.