Notfall & Hausarztmedizin 2006; 32(8/09): 393
DOI: 10.1055/s-2006-951781
Editorial

© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Risikofaktor Gesundheitspolitik

Peter Knuth
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Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
18. September 2006 (online)

Ein Risikofaktor ist definiert als ein Umstand, der eine besondere Gesundheitsgefährdung begründet, den Ausbruch einer Krankheit begünstigt und generell die Heilungsprognose verschlechtert. Es stellt sich die Frage, ob diese Definition nicht auch auf den so genannten „Gesundheitskompromiss” der gegenwärtig herrschenden großen Koalition zutrifft. Nach einhelliger Meinung aller Fachleute im Gesundheitswesen (diese Gruppe ist keineswegs identisch mit Gesundheitspolitikern) ist der „Gesundheitskompromiss” ungeeignet, auch nur eines der drängenden Probleme des deutschen Gesundheitswesens, sei es die Folgen der demografischen Entwicklung in der Bundesrepublik Deutschland oder die Konsequenzen des medizinischen Fortschrittes zu lösen und eine nachhaltige Finanzierung des Gesundheitssystems auf einem angemessenen - nicht überzogenen - Niveau zu sichern.

Statt diese Aufgabe nachhaltig zu lösen, präsentiert die Große Koalition dem sich verwundert die Augen reibenden Bürger eine Melange aus Elementen sozialistischer Gleichheitsphantasien, verbunden mit Umverteilungen für Krankenversicherungskosten von oben nach unten und - aus dem Denkfundus der anderen großen Volkspartei stammend - einen Minigesundheitsfond mit steuerfinanzierten Anteilen für Kinder und der Behauptung, dieses Modell würde die Belastung des Faktors Arbeit durch Sozialkosten entlasten.

Einmal abgesehen davon, dass das vorgelegte Modell zur Administration einer milliardenteuren gigantischen Bürokratie bedarf, ist es weder gerecht, noch hat es einen beachtenswerten positiven Einfluss auf die Kosten für den Faktor Arbeit in Deutschland, da der Einfluss der Kosten der gesetzlichen Krankenversicherung auf die Arbeitskosten oft falsch dargestellt wird.

Gesundheitliche Gleichheit ist a priori nicht herstellbar, da gesund oder krank einen individuellen Zustand jedes Menschen in einer großen Normbreite darstellt. Was für den Einen noch gesund ist, ist für den Anderen schon krank und auch die Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen ist nicht schematisierbar. Daher kann es nur darauf ankommen, für die unstreitig Kranken gleichen Zugang zu Gesundheitsleistungen zu schaffen, was nicht bedeutet, dass die tatsächliche Leistung auch gleich sein muss. Das Krankenbett ist kein Platz für die Schlacht um sozialistische Gleichmacherei.

Die Umverteilung des Aufkommens für die Kosten der gesetzlichen Krankenversicherung von oben nach unten, die als gerecht ausgewiesen wird, ist in Wahrheit ungerecht, da sie außer Acht lässt, dass es einen Zusammenhang gibt zwischen höherem Einkommen und gesundheitsbewussterer Lebensweise, welche Krankheitskosten reduziert. Daher könnte bestenfalls der Umstand „verantwortungsbewusster Umgang mit der Gesundheit” ein Parameter für Kostenumverteilungen sein.

Auch der derzeitige Umgang der „Amtsleiterin für die deutsche Gesundheit in Berlin” mit den Krankenkassen ist geeignet, sich zu fragen, ob es ein Mandat des Wählers an die Politiker gibt, für den nackten politischen Machterhalt die Problemlösung völlig aus den Augen zu verlieren. Die Gesundheitspolitik überzieht aktuell ihre Kompetenzen aus dem ihr übertragenen Wählermandat und begründet dies mit notwendiger Ordnungspolitik. Hierzu hat der gewiss nicht rechtsliberaler Abweichung verdächtige Heiner Geißler in einem Interview mit der „Zeit” vom 1.3. 1991 seine Auffassung vertreten, dass die Ordnungspolitik eine der Worthuren sei, in die jedermann hineinstecken könne, was ihm passe.

Betrüblicherweise ist das Problem nicht neu, dass unser Gemeinwesen viele lösbare Probleme hat, wir aber feststellen müssen, dass unser größtes Problem die Politik selbst ist. Über Aufgabe und Grenzen des Staates schrieb 1792 Wilhelm von Humboldt in seinem Essay „Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen (Zitat) ”Der Staat enthalte sich aller Sorgfalt für den positiven Wohlstand der Bürger und gehe keinen Schritt weiter als zu ihrer Sicherstellung gegen sich selbst und gegen auswärtige Feinde notwendig ist; zu keinem anderen Endzweck beschränke er ihre Freiheit.”

Das Beherzigen dieses Prinzips in der Gesundheitspolitik würde den Würgegriff der Zwangsbeglückung mit staatlich definierter Gesundheit - und wem diese zu welchen Regeln zu Gute kommt - beenden und endlich dem freiheitlichen Bürger Raum lassen, der für sich selbst sorgt. Dies steht nicht im Widerspruch zu einer Solidargemeinschaft, die für echte Nöte Einzelner gemeinsam einsteht.

Prof. Dr. med. Peter Knuth

Wiesbaden

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